Chaos

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Lillys p.o.v.

Den Rest des Schulweges waren wir schweigend gegangen.
Ben war angespannt gewesen. Hatte stur auf den Weg vor sich geblickt. Die Zähne zusammengebissen.

Es tat mir weh, ihn so leiden zu sehen. Zu wissen, dass ich der Grund war, wegen dem er litt.
Wie gern hätte ich ihm die Anspannung genommen! Den stillen Schmerz!
Aber wie sollte ich, wo ich doch daran Schuld war?

Genau deswegen verdiente ich ihn einfach nicht. Verdiente überhaupt keinen Mate. Ich brachte meinen Mitmenschen nur Schmerz.
Besonders denen, die mir sehr nahestanden. Leuten wie Ben.

Wenn ich jemand anderes wäre, jemand wie Olivia, jemand, der selbstlos und rücksichtsvoll ist....tja, dann wäre ich schon längst abgehauen.
Dann wäre ich nicht mehr hier, würde Ben keinen Schmerz zufügen.

Aber so war ich nun Mal nicht. Ich konnte nichts gegen meinen Charakter, gegen meinen Egoismus und meine Selbstsucht tun.
Ich brauchte Ben und ich war nicht in der Lage, gegen diese Sehnsucht nach ihm anzukämpfen.

Oder vielleicht... vielleicht war ich es ja doch. Vielleicht konnte ich es, aber ich war einfach zu schwach dafür. Zu feige.
Ich wollte Ben nicht verlassen. Das Gefühl, einen Mate zu haben, war einfach zu großartig, zu schön.

Ich hatte so etwas noch nie zuvor genossen.
Diese Wärme in meinem Herzen, die nur wegen ihm dort war. Diese warme Liebe, die immer in seinen Augen aufleuchtete, sobald er mich sah.
Die Freude, wenn ich ihm meine Gesellschaft schenkte.
Die zärtlichen Liebkosungen, die er mir zuteil werden ließ. Er hatte ja keine Ahnung, wie viel sie mir bedeuteten.
Wenn er nach meiner Hand griff, mir einen kurzen Kuss auf die Stirn gab, wurde mir warm ums Herz.
Selbst wenn er so etwas tat, wie an mich zu denken und sei es auch nur, indem er mir zum Beispiel etwas zum Trinken brachte, während ich draußen saß.

Ich weiß, irgendwie war das vielleicht erbärmlich. Manche erachteten dies als selbstverständlich, nahmen es kaum wahr.
Aber ich war es einfach nicht gewohnt. Umso schöner und bedeutender waren diese Gesten für mich.

Kurzum: ich konnte ihn einfach nicht verlassen. Konnte das Glück, und sei es auch nur in manchen Momenten vorhanden, einfach nicht aufgeben.
Ich war nicht Olivia. War nicht selbstlos.

Wobei...Olivia an meiner Stelle hätte Ben wahrscheinlich nicht verlassen, sondern ihm alles verraten. Alles erzählt.
Denn eine Eigenschaft machte sie auch noch aus: Mut.
Noch immer erinnerte ich mich daran, wie sie ohne zu zögern Alessandro zu Hilfe geeilt war, an seinem Geburtstag.
An diesem Tag hatte sie mich mächtig beeindruckt.

Ich dagegen war ganz und gar nicht mutig, sondern einfach nur ein jämmerlicher Feigling.
Ich hatte es ja versucht. Hatte es versucht, Ben davon zu erzählen.
Aber es hatte einfach nie den richtigen Augenblick gegeben.
Okay, das war eine dumme Ausrede.
Es gab nie den einen richtigen Moment für sowas.
Letztendlich war es einfach daran gescheitert, dass ich zu egoistisch, zu feige und zu ängstlich war.

Eben eine richtig jämmerliche Person.
In dieser Hinsicht hatten meine Eltern wohl Recht behalten.
Shit. Was tat ich hier eigentlich?
Da saß ich in diesem Zimmer, ohne Ben, saß auf dem Bett und starrte Löcher in die Luft.
Dachte an meine Eltern. Meine Eltern, die nie an mich geglaubt hatten.

Verdammt, ich wusste genau, dass Selbstmitleid nicht gut war. Und im Moment versank ich geradezu darin.
Okay, nicht nur im Moment, schon die ganze Zeit. Ich wusste nicht, wie spät es wahr.
Es war mir gleichgültig. Ich wusste nur, dass Macella ein paarmal nach mir gesehen hatte, sie hatte mir Essen angeboten, die Rolläden runtergemacht und das Licht an.
Ich hatte keinen Hunger gehabt, trotzdem hatte sie mich dazu bringen können, etwas von ihrem Risotto zu essen.
Es mussten bestimmt schon Stunden vergangen sein.
Verfluchte Stunden suhlte ich mich bereits im Selbstmitleid.

Und wer war Schuld daran? Damien!

Wäre er nicht gekommen, wäre dieser Streit zwischen Ben und mir nie gewesen!
Klar, irgendwie war er sowieso unvermeidbar gewesen, aber ich hätte noch ein bisschen Zeit gehabt!
Und jetzt kam Damien daher, mit sich brachte er meine ganze Vergangenheit, die zwar immer in mir war, aber jetzt stürzte sie über mich ein wie eine Welle.

Sonst hatte ich es immer geschafft, sie zu verdrängen.
Die Gedanken zu verdrängen.
Jetzt war alles anders. Nur wegen ihm.

Mein Zorn auf ihn wuchs. Doch gleich darauf tadelte ich mich selbst.
Schlussendlich war doch niemand anderes Schuld als ich selbst.
Ich sollte es Ben eben einfach erzählen.
Verdammt!

Die ganze Zeit, seit wir von der Schule gekommen waren, verbrachte ich schon so.
Mit diesem Chaos in meinem Kopf, in meinem Herzen.
Ben hatte seit unserem Streit nicht mehr unser Zimmer betreten.

Irgendwie wünschte ich es mir, wünschte mir, dass einfach wieder alles so war wie vorher.
Aber ich hatte es im Gefühl, dass er dieses Mal nicht so einfach klein beigeben würde.
Oh nein. Dieses Mal war anders. Dieses Mal war meine Vergangenheit so viel mehr präsent.

Gequält schloss ich die Augen. Was sollte ich nur tun?
Ich war restlos überfordert. Ganz und gar überfordert.
Vielleicht hatte ich mir die ganze Zeit auch nur was vorgemacht und war es die ganze Zeit schon?
Hatte es nur nicht zugeben wollen?

Wie auch immer, ich musste was dagegen tun.
So sehr es mir auch misshagte, es sah ganz danach aus, als ob ich Hilfe brauchte.

Ich hatte überhaupt keine Lust, mit irgendwem darüber zu reden.
Vor allem musste ich aufpassen, was ich sagte.
Ich konnte meine Geschichte einfach niemanden ganz und gar anvertrauen.
Aber vielleicht Bruchstücke. Ich könnte vage genug bleiben, dass mir trotzdem noch geholfen werden konnte.

Jedenfalls würde ich dieses eine Mal meinen Stolz zur Seite schieben und mit jemandem reden müssen.
Nur dieses eine Mal würde ich über meinen Schatten springen müssen.
Denn es war offensichtlich, dass ich allein nicht weiterkam.

Seufzend schloss ich die Augen.
Überlegte, wer für ein Gespräch in Frage kam.
Ben nicht. Ich konnte das einfach nicht. Und wenn ich einmal anfing zu reden, würde er mehr wissen wollen.
Ich konnte mich einem Gespräch mit ihm noch nicht stellen.

Alessandro? Er war mein zukünftiger Alpha, ein Freund von Ben und auch irgendwie von mir, aber.... nein, das konnte ich mir nicht vorstellen.

Tom? Ich mochte ihn, er war lustig, immer gut gelaunt.
Aber er und ernst? Das passte nicht zusammen. Und überhaupt, würde er mir helfen können?
Am Ende würde er mir nur kluge und auch lustige Sprüche entgegenwerfen, aber das half mir im Moment nicht.

Macella, meine Luna, sie hatte mir ihre Hilfe mehrfach angeboten.
Sie würde mich auf jeden Fall trösten.
Aber würde sie mir helfen können?

Nein, ich brauchte jemanden, der mir einen wahren Rat geben konnte, jemand, der schon einmal in einer ähnlichen Situation gewesen war, jemanden wie....
Olivia.

So sehr ich mich auch sträuben mochte, aber sie erschien mir als die richtige Wahl.
Zwar schmerzte es mich, sie so glücklich mit Alessandro zu sehen, ganz davon abgesehen, dass ich sie wegen ihrer selbstlosen und mutigen Art beneidete.

Aber wie gesagt, es war Zeit, über meinen Schatten zu springen.
Und dieses Mal würde ich mich nicht rausreden.
Dieses Mal würde ich Taten folgen lassen.
Demnach stand ich endlich aus dem Bett auf, nach dem langen Sitzen etwas wacklig auf den Beinen, aber das legte sich und ich machte mich auf den Weg zu Olivias und Alessandros Zimmer.

I wanna be free, MateWhere stories live. Discover now