Und ich öffnete die Tür...

1.6K 107 14
                                    

Lillys p.o.v.

Tief atmete ich ein und aus. Dann sah ich wieder Olivia an.
Klar, ihr hätte es geholfen, ganz am Anfang mit Alessandro zu reden, aber bei mir war die Situation eben eine ganz andere. Nicht vergleichbar mit ihrer.

"Bei mir ist das was anderes, okay? Ich kann nicht mit Ben reden. Sei doch froh, dass ich mich dir anvertraut habe. Aber bitte, sag niemandem was davon. Schwöre es, okay?"

Fest blickte ich ihr in die Augen. Ich glaubte zwar nicht, dass Olivia irgendjemandem was verraten würde. Sie schien mir sehr loyal und zuverlässig zu sein.
Aber trotzdem bestand die Möglichkeit, dass sie vor Alessandro einknickte.

Olivia erwiderte meinen Blick genauso fest und nickte.

"Ich werde niemandem was hiervon sagen, Lilly. Das ist nämlich ganz allein deine Angelegenheit. Wenn jemand was sagen muss, dann bist das du. Ich werde dir das nicht abnehmen. Ich schwöre es."

Ich nickte.
Dann senkte ich den Blick und seufzte schwer. Das war alles so verzwickt. Am liebsten würde ich vor dieser Situation hier fliehen, ganz weit weg gehen, wo mich niemand fand, nicht der Schmerz, die Angst, die Frustration.

Doch ich war schon einmal vor etwas geflohen. Und das hatte mir gezeigt, dass es überhaupt nichts brachte, einfach abzuhauen.
Die Vergangenheit, die Gefühle, egal, vor was man floh, man konnte es nicht hinter sich lassen.
Es blieb beständig bei einem. Im Kopf oder im Herzen. Oder in beidem.

Ob ich es wollte oder nicht, ich musste mich alldem stellen. Ich habe mit Olivia darüber gesprochen. Und auch wenn sie mir einen Rat gegeben hatte, den ich nicht befolgen wollte...so war es doch trotzdem ein gutes Gefühl, etwas von der Last auf meinen Schultern jemandem anvertraut zu haben.
Ich fühlte mich nicht unbedingt frei, aber ich fühlte mich leichter.
Ich wusste, wenn ich wieder reden wollte, dann war Olivia da für mich. Wie eine wahre Luna.

Doch jetzt musste ich mir erst einmal einen Plan machen.
Es war offensichtlich, dass ich mich meiner Vergangenheit stellen musste. Den ersten Schritt hatte ich schon einmal getan, indem ich mit Olivia redete.

Ich konnte es immer noch nicht so ganz fassen. Endlich hatte ich mich jemandem anvertraut. Okay, nur ein Stück weit, aber trotzdem.
Ich hatte mir das so anders vorgestellt. Ich dachte, wenn ich endlich redete, würde ich mit Vorwürfen überladen werden. Man würde mich nicht verstehen.

Doch Olivia hatte keine Vorwürfe für mich übrig.
Im Gegenteil. Sie war voller Anteilnahme. Sie wollte mir helfen.
Wann hatte ich das das letzte Mal erleben dürfen?

Wie auch immer, jetzt musste ich einen weiteren Schritt tun.
Wie der aussehen sollte?
Ich musste mich Damian stellen. Er symbolisierte einen großen Teil meiner Vergangenheit.
Wenn ich mich ihm stellte, mich ihm gegenüber behauptete, vielleicht... vielleicht wäre dann alles gut.
Vielleicht hätte ich meine Vergangenheit dann endlich hinter mir gelassen.

Doch selbst dann würde immer noch das Problem mit meiner Gabe bleiben. Meine Gabe, die auf den ersten Blick so harmlos wirkte, aber doch so zerstörerisch war.
Sie war böse. Und ich hatte keine Ahnung, wie ich sie kontrollieren sollte.
Ich musste sie beherrschen lernen. Fragte sich nur, wie.
Aber alles der Reihe nach.

Jetzt hatte ich mit Olivia geredet, hatte eine Ansprechpartnerin.
Ich musste mich auf die guten Sachen konzentrieren.

Nach einer Weile, in der mir all diese Gedanken durch den Kopf gegangen waren, sah ich wieder hoch.
Olivia blickte mich nachdenklich an.

Wie ich wohl auf sie wirkte?
Sie hatte einen Einblick in meine Vergangenheit erhalten, aber sie wusste trotzdem nicht alles.
Überlegte sie, was noch alles in meinem Inneren verborgen lag?
Sah sie mich jetzt mit anderen Augen?
Überlegte sie, wie sie mir helfen konnte?

Je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger Lust hatte ich, es erfahren zu wollen.
Wahrscheinlich sah sie mich jetzt sowieso nur als erbärmliches, mitleiderregendes Wesen, das zu feige war, ein einfaches Gespräch mit seinem Mate zu führen.

Ich könnte kotzen.
Da hatte ich mir soviel Mühe gegeben, eine starke und stählerne Fassade aufzubauen, eine glatte Barbie-Maske und dann öffnete ich mich in einem Gespräch und - zack!- war mein guter Eindruck dahin.
Aber so lange es nur eine Person war, die mich so sah...
Außerdem hatte mir dieses Gespräch geholfen.
Ich musste die positiven Seiten sehen. Durfte mich nicht von den negativen beeinflussen lassen.

Schließlich lächelte ich Olivia kleinlaut an.

"Danke, dass du mir zugehört hast. Mitten in der Nacht."

Dieses einfache Danke erschien mir so gering.
Denn es bedeutete mir viel mehr, mehr als ich mit Worten je ausdrücken konnte.
Niemand hat mir je zuvor richtig zugehört.
Meine Worte waren an meinen Eltern immer abgeprallt, als redete ich mit einer Wand. Von Damian ganz zu schweigen.
Und später dann hatte ich über solche Dinge, für die ich mich wahrlich öffnen musste, nicht mehr geredet.

Olivia lächelte warm zurück.

"Du brauchst mir nicht zu danken, Lilly. Ich bin immer für dich da, wenn du jemanden zum Reden brauchst, okay? Egal, was es ist, du kannst jederzeit zu mir kommen."

Mein Lächeln schien auf einmal so brüchig.
Gott, wie hatte ich nur eine Luna, bzw. baldige Luna wie Olivia verdient? Sie war zu gut für diese Welt und allemal zu gut für mich.
Doch egoistisch wie ich war, würde ich mir deswegen ihre Gesellschaft nicht verweigern.

Also nickte ich nur und stand auf.
Ging zur Tür, um Olivia endlich wieder zu ihrem Mate zu lassen.
Ich hatte sie schließlich lange genug bei mir behalten.
Alessandro vermisste sie bestimmt schon sehr.
So wie die beiden seit ihrer Markierung aneinander klebten.
Wenn ich nur daran dachte, wie sie in der Schule nach jedem Kurs miteinander rumknutschten, ob sie ihn nun zusammen hatten oder nicht.

Bei diesem Gedanken fragte ich mich unwillkürlich, ob Ben mich auch so vermisste.
In den Pausen knutschte ich schon so manche Male mit anderen Kerlen herum, um Ben klarzumachen, dass ich nicht gänzlich ihm gehörte.
Grausam, ich weiß. Ich verletzte ihn damit.
Aber vielleicht war das ja sogar meine Absicht, wer weiß?
Vielleicht wollte ich ihn unbewusst verletzen, damit er einsah, dass ich die Falsche war.
Damit er sich von mir lossagte, weil ich zu schwach dafür war.

Bei dem bloßen Gedanken an eine Lossagung wurde mir bang ums Herz. Obwohl ich wusste, dass es für uns wahrscheinlich das Beste wäre.

Bei der Tür angelangt, verscheuchte ich diese Gedanken aus meinem Kopf und drückte die Klinke nach unten.

I wanna be free, MateWhere stories live. Discover now