bitchige Realität

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Bens p.o.v.

Ich holte noch einmal tief Luft, ließ sie reinigend und frisch durch meine Lungen strömen.
Bereitete mich auf alles vor, was kommen mochte.

Dann zog ich meinen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf.
Meine Hand zitterte.
Mit zusammengebissenen Zähnen ignorierte ich das.
Die Tür sprang auf. Es war noch nie schwerer gewesen, über diese Schwelle zu schreiten als jetzt.

Aber ich schaffte es, Schritt für Schritt. Für Lilly. Ich tat das hier für Lilly. Für uns. Für unsere Liebe.
Schwer schluckend trat ich ein, und das Erste, was ich roch, war Lillys Geruch.
Sanft umhüllte er mich, als begrüße er mich wie einen verloren geglaubten Freund.
Schön wär's.

Ich hatte Alessandro hinter mir vergessen. Alles, was noch in meinem Kopf, in meinem Herzen, in meiner verdammten Seele existierte, war Lilly.
Die eisige Schönheit mit den Narben auf der Seele.
The icy princess with the scars..., schoss es mir in den Kopf.
Ich schob den Gedanken weg. Schob diesen passenden Songtitel weg.
Schob das Prickeln in meinen Fingern weg, den Drang, einen Stift in die Hand zu nehmen und zu schreiben, zu komponieren.

Etwas, das ich seit dem Tod meines Vaters nicht mehr getan hatte.
Und wahrscheinlich auch nie mehr tun würde.

Ich ging auf die Treppe zu. Ich spürte, dass sie oben war. In unserem Zimmer. Wieder musste ich schlucken.
Langsam hob ich meinen Fuß, als würde er eine Tonne wiegen.
Lächerlich. Es war lächerlich, wie ich mich hier verhielt.
Ich wollte nur mit Lilly reden. Sie würde mir schon nicht den Kopf abreißen.
Also warum machte ich mir dann so in die Hose?

Weil sie dein Herz in Händen hält, schien mir eine innere Stimme zu antworten.
Ich biss die Zähne noch fester zusammen.
Nicht nur mein Herz, sondern meine ganze Seele.
Und sie wusste es wahrscheinlich nicht einmal.
Ich hatte es ihr nie gesagt. Hatte warten wollen, bis sie sich mir ganz und gar hingab, mir ihre Vergangenheit offenbarte.
Hatte warten wollen, bis es keine Geheimnisse mehr zwischen uns gab.
Denn eine Beziehung mit Geheimnissen war nie gut.
Jetzt kam ich mir so dumm vor. Warum hatte ich es ihr nicht trotzdem gesagt?
Ich hätte es tun sollen. Vielleicht hätte sie mich dann erst alles erklären lassen. Wäre nicht weggerrannt.
Hätte mich reden lassen.

Aber jetzt war es ohnehin zu spät und masochistisch, sich über das "Was-wäre-wenn" Gedanken zu machen.
Wieder hob ich einen Fuß. Ging dem Mittelpunkt meines Lebens näher. Zumindest so nah wie sie es mir erlaubte.
Ich würde nie an ihr Herz gelangen, wenn sie entschied, mich auf Abstand zu halten.
War das alles, was uns blieb? Physische Nähe? Ohne das wahre Glück, das einem bei der wahren Liebe durchströmte?

Stufe für Stufe ging ich weiter hoch. Für jede Stufe eine neue Frage.
Machte ich einen Fehler? Stufe sechs.
Sollte ich noch warten? Stufe sieben.
Aber auf was? Stufe acht.
So ging es weiter, bis ich oben auf dem Treppenabsatz stand. Links von mir die Tür. Wie oft war ich durch sie gegangen, so leicht, als wäre sie nicht vorhanden?

Doch auf einmal erschien sie mir wie eine Mauer aus Stahl. Nein, nicht aus Stahl, aus härtestem Titan, versetzt mit unzerstörbarem Diamant.
Diamant. Lilly war wie ein Diamant. Wunderschön von außen. Glänzend, glatt.
Dabei war das letztlich doch nur eine Fassade.
Man sah nicht das Innere, nicht ihre Vergangenheit. Sah nicht die harten Jahre, die sie zu diesem Diamanten geformt hatten.
Zu einer starken Persönlichkeit. Stark und doch so verletzlich.
Beeindruckend, auf solch vielerlei Hinsicht.

Am liebsten würde ich ihr all das sagen. Ihr aufzählen, was ich alles an ihr liebte.
Nicht ihr Aussehen, na ja, nicht nur.
Nein, ich liebte einfach alles an ihr. Selbst solche Kleinigkeiten, wie das Blitzen ihrer eisblauen Augen, wie ihr genervtes Augenverdrehen, das leichte Lächeln, wenn sie mich ansah und meinte, ich bemerkte es nicht.
Die Art, wie sie sich das Haar nach hinten warf, wie sie das Kinn hochreckte.
So viele Kleinigkeiten...und Tausend mehr.

I wanna be free, MateWhere stories live. Discover now