36.

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E V E L Y N

Immer wieder drehte ich verunsichert um, um dann daraufhin mein Tempo zu beschleunigen. Angekommen in der Einfahrt, nuschelte ich den Wachleuten ein leises Hallo. Bevor ich auch nur klopfen konnte, wurde mir bereits die Tür geöffnet. 

Evie lächelte freundlich und zog mich hinein. 

"Und wie wahr dein Tag, liebes? Du hast bestimmt Hunger", sie half mir mich aus der Jacke zu schälen, um dann blitzschnell in die Küche zu düsen. "Zachary wartet oben auf dich."

Schluckend sah ich zu den Treppen und schritt sie nur langsam hinauf. Bilder drangen hervor, die mich erzittern ließen. 

"Ich will dich nicht mehr gehen lassen, Evelyn."

"Zachary, ich muss zur Schule", hauchte ich und versuchte mit meiner letzten Kraft ihn von mir zudrücken, doch er ließ es nicht zu. Er drückte mich gegen die Wand und sah zu den Treppen hinunter, um dann lange seinen Mund mit meinem Mund zu verschmelzen. 

"Ich werde auf dich warten."

Ich schüttelte meinen Kopf und seufzte. Es gab doch keinen Grund sich zu beschweren. Ich bekam alles, was ich wollte. Und ich wollte Liebe, Zuneigung, Aufmerksamkeit. Und die bekam ich. Ausreichend. 

Wieder blitze ein Bild hervor. 

"Du hättest nicht lügen müssen, Evelyn. Ich bin irgendwie enttäuscht." 

Abrupt blieb ich stehen und versuchte die aufkommenden Tränen zu verdrängen. Und nun merkte ich auch, dass ich bereits vor seinem Arbeitszimmer stand. Zögerlich stieß ich die Tür auf und erblickte einen großen Mann mit einer dampfenden Zigarette in der Hand. Er lehnte an der Wand und war vermutlich erfreut über mein Erscheinen. 

Er grinste. 

"Ich hab dich vermisst."

Langsam schritt ich herein und schloss zart die Tür hinter mir, um bloß keine Unruhe zu verbreiten. Ließ meinen kindlichen schweren Rucksack von den Schultern fallen und lehnte ihn an die Wand ab, während er mir dabei zusah und genüsslich an seiner Zigarette zog. 

"Wie war dein Tag?" Schrecklich. Aber ihm würde ich das niemals erzählen. Er fragte bestimmt aus reiner Freundlichkeit, es interessierte ihn bestimmt nicht. Und jeder würde mit den gleichen Worten antworten. Leider beantwortete ich immer falsch, aber man konnte mir schließlich nur vor den Kopf gucken.

"Super. Habe Chemie verstanden und demnächst schreiben wir auch unsere Prüfungen. Ich werde die Arbeiten bestimmt meistern", er nickte und sah zu mir hinunter, als wir dicht aneinander standen. Sein warmer Atem prallte gegen meine Wange. 

Ein warmer Schauer fuhr mir den Rücken hinunter, als er seine andere große Hand zu meiner Taille hinuntergleiten ließ. Tief sah er mir in die Augen. Währenddessen wand er sich kurz mit dem Gesicht ab, um den Rauch in einem auszustoßen.

Kräftig zog er nun wieder an der Zigarette und blickte mir wieder in die Augen. Und in diesem schimmernden Augenblick wollte ich nichts sehnlicher als seine Lippen. Seinen Geschmack auf meinen Lippen spüren, seinen männlichen Geruch einatmen und mich fest an ihn schmiegen. 

Woher der Sinneswandel? Praktisch lag es auf der Hand; es lag an der Liebe. Das Gefühl von Liebe kann ich erst dann erleben, wenn ich mich mit ihm austausche. Liebe war eine Bezeichnung für stärkste Zuneigung und Wertschätzung. Liebe war ein stärkeres Gefühl, das man fühlte. 

Ich fühlte mich zu Ihm hingezogen. Es war Liebe. 

Liebe spricht nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Herz. Liebe war ein überwältigendes, mächtiges Gefühl, eine Kraftquelle, die in schlechten Zeiten Zuversicht gibt und in guten Zeiten unser Glück vergrößert. Liebe war ein Ort, an den du gehst um zu geben. Zu lieben heißt, den anderen mit seinen Stärken und trotz seiner Schwächen anzunehmen und zu lieben. Denn Liebe war zwar bedingungslos, aber nicht grenzenlos.

MINE | ✓Where stories live. Discover now