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Das Rumpeln wurde lauter und die Wände schienen zu zittern. Minho hielt sein Messer wieder in der Hand.
"Was ist das?" Thomas sah aus den Augenwinkeln zu ihm rüber. Auf seinem Gesicht war nur noch Konzentration, keine Spur von der Traurigkeit davor. Beeindruckende Selbstkontrolle. Oder Schutzmechanismus, wer wusste das schon?

Mittlerweile hatten sich alle in der Mitte versammelt und unbewusst im Kreis aufgestellt. Rücken an Rücken standen sie da und betrachteten mit aufmerksamen Blicken ihre Umgebung.
"Da!", ertönte Brendas Stimme. Alle wandten sich in ihre Richtung.
Eine Wand öffnete sich. Thomas und Minho tauschten einen Blick aus. Es war klar, dass sie an dieselbe Sache dachten. Das Labyrinth. Die Wände hatten sich dort genauso geöffnet. Doch hier schien es nur einen Durchgang zu geben.

"Worauf warten wir? Los!"
Als wären sie alle aus einer Starre erwacht, warfen sie Blicke umher.
"Ich denke, wir sollten durch. Wenn das der Ausgang ist, ist es vielleicht auch der eigentliche Eingang."
"Ist nicht gerade das das Gefährliche? Was, wenn wir irgendeiner kranken Organisation in die Hände fallen oder Kranken an sich.", setze Harriet dagegen.
"Stimmt. Da sind wir ja wirklich unerfahren." Der Sarkasmus in Minhos Stimme schenkte ihm einige böse Blicke, aber innerlich stimmten ihm wohl alle zu. Zumindest sah es für Thomas so aus.

Sonya trat in den Eingang und die Truppe folgte ihrem Beispiel. Drinnen war es stockfinster, die einzige Lichtquelle schien sich draußen zu befinden. Noch half die Sonne ihnen, doch je weiter sie in den Gang eindrangen, desto mehr Probleme hatten sie mit dem Sehen. Nach nur fünf Minuten sahen sie gar nichts mehr. Ein lautes Geräusch ertönte, der Eingang schloss sich wieder.

"Zurück kommen wir auf demselben Weg definitiv nicht mehr.", bemerkte Jorge trocken.
"Hoffen wir, dass das kein Problem sein wird." Harriets Stimme kam von irgendwo hinter Thomas. Soweit er wusste, gingen vor ihm Minho, Aris und Sonya, hinter ihm Harriet, Brenda und Jorge. Wieder fragte Thomas sich, ob ihre Anzahl ihnen eine Hilfe oder ein Hindernis sein würde. Bisher war es nichts von beidem gewesen, aber das konnte sich noch ändern.
Vor der Brandwüste waren es auch viele mehr.

Kopfschüttelnd seufzte Thomas. Die Erinnerungen verfolgten ihn. War das ein Trauma? Er wusste es nicht genau, aber es war naheliegend.
Schweigend gingen sie weiter, jegliches Zeitgefühl war verloren. Ein dumpfes Geräusch unterbrach die Stille, gefolgt von einem Stöhnen.
"Vorsicht, hier ist eine Wand." Sonyas Stimme klang etwas eigenartig, so als hätte sie die Warnung selbst gerne erhalten.

"Ich hoffe doch, du bist nicht mit dem Gesicht gegengerannt." Aris hingegen klang belustigt, wenn auch etwas besorgt. In dieser Dunkelheit wollte niemand von ihnen auch noch simplen Gefahren wie Wänden ausgesetzt sein.
"Ob du's glaubst oder nicht, genau das bin ich. Keine angenehme Erfahrung, lasst euch das gesagt sein. Tastet an den Wänden entlang!" Zögerlich streckte Thomas seine Hände aus, musste aber einige Schritte zur Seite gehen, um etwas zu berühren. Die Wand war da, kalt, steinig und grundsolide.

"Der Gang war doch enger, oder nicht?", ertönte Minhos Stimme.
"Werd mal bisschen spezifischer!" Brenda überraschte Thomas, sie stand direkt hinter ihm.
"Ich fühle keine Wand und ich bin sicherlich schon einige verdammte Schritte gegangen!"
Thomas legte seine Hände an die andere Wand und begann sie entlangzugehen. Irgendwann hörte sie auf und seine Hände berührten Stoff. Stoff?

"Woah!" Minho zuckte zurück und schlug Thomas Hand von sich.
"Minho?"
"Thomas? Du kannst wirklich furchteinflößend sein, weißt du das?"
"Ich glaube zu wissen, dass du mir das schonmal gesagt hast."
Aris unterbrach die beiden Freunde.

"Ich sage das zwar ungern, aber fasst euch alle mal an den Armen, damit wir uns nicht in diesem stockfinsteren und überhaupt nicht gruseligen Gang verlieren und verirren!"
Nach und nach schienen sich alle zu finden. Thomas hielt jemanden an der Hand, er konnte aber nicht genau sagen, wen. An seiner anderen Hand sollte Minho sein, doch der war nirgends.
"Minho?"

"Hier! Einige Schritte im Gang!"
"Sollten wir uns nicht verlinken, damit wir uns nicht verlieren?"
Das war Harriets Stimme, direkt neben Thomas. Jetzt war klar, wen er da an der Hand hielt. Minho tauchte von irgendwoher auf und griff nach Thomas Unterarm. Zumindest hoffte er, dass es Minho war.
"Wer steht ganz hinten?"
Gut, er war es. Thomas atmete erleichtert aus. "Meine Wenigkeit, Aris Jones!"
"Welche Hand hast du frei?"
"Die linke."
"Taste dich an der linken Wand entlang. Wenn du einen Gang bemerkst, sag Bescheid. Ich mache dasselbe mit der rechten Hand!"

Thomas spürte, wie Minho seine Hände austauschte. Die Idee war gut, wirklich gut, aber was, wenn sie in eine Sackgasse gerieten und Minho gegen die Wand vorne lief? Als Thomas Minho darauf ansprach, bekam er eine Antwort ganz nach seiner Art.
"Dann werde ich ein wunderschönes blaues Einhorn sein. Shank, ich taste mit der Hand einfach weiter vorne, dann klappt das schon. Alles klar?"
"Gut. Wollte nur sichergehen. Vergiss nicht, dass auf dem Boden auch Hindernisse sein könnten."
Die Antwort des Asiaten kam nicht sofort.
"Unwahrscheinlich, aber möglich. Daran habe ich noch nicht gedacht. Ich denke, das werden wir jetzt herausfinden müssen."
Im nächsten Moment wurde Thomas schon durch den finsteren Gang gezogen.


Die Dunkelheit wollte einfach nicht enden. Sie schienen schon ewig unterwegs zu sein, doch es gab keinen Ausweg.
"Wer auch immer das gebaut hat, wollte Abstand von seinen Errichtungen." Brenda stieß ein Geräusch zwischen Schnaufen und Lachen aus. Tatsächlich schien der Gang ins Nirgendwo zu führen. Thomas hatte aus Prinzip angefangen die Minuten zu zählen, seit sie Hand in Hand losgegangen waren. Momentan befand er sich bei vierzehn, es kam ihr aber länger vor.

"Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir nicht vorankommen. Es fühlt sich an, als würde der Boden sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen.", beschwerte sich Aris.
"Wartet!" Harriet blieb abrupt stehen und zog an Thomas Hand.
"Spürt ihr das?" Thomas konzentrierte sich darauf, etwas zu spüren. Wenn seine Augen nicht sehen konnten, mussten die anderen Sinne doch stärker sein. Da fühlte er es.

Kaum merklich, aber er schien sich zu bewegen. Oder besser gesagt, der Boden schien sich zu bewegen. Genau sagen konnte er es aber nur, weil seine Hand ab und zu gegen die Wand gestreift war. Er löste seinen Arm und streckte ihn aus. Tatsächlich schien die Wand vorbeizufahren.

"Der Boden fährt rückwärts. Verrückte Welt.", bemerkte Jorge trocken.
"Super! Wirklich ideale Situation! Der Boden fährt rückwärts und wir gehen schon wer weiß wie lange auf derselben Stelle! Wie ich sehe, wird unser Leben immer normaler." Minhos Stimme hatte etwas ziemlich Genervtes und Thomas hätte am liebsten genauso genervt gegen die Wand geschlagen. Das konnte doch nur ein Witz sein!

"Rennen."
"Was?"
"Wir müssen rennen. Dann sind wir schneller als der Boden. Wenn man die Hand an die Wand hält, merkt man, dass der Boden sich nicht sehr schnell bewegt. Wir könnten es schaffen."
"Na gut, versuchen wir es. Zählt jeweils bis zehn, bevor ihr losrennt. Und versucht, nicht in andere reinzulaufen."

Minho rannte los und Thomas fing an zu zählen. Dann rannte er ebenfalls.
Vor sich hörte er Minhos Schritte, hinter ihm fing Harriet gerade auch mit dem Rennen an. Immer mehr Schritte ertönten und hallten den Gang entlang. Während Thomas so durch den engen und finsteren Gang rannte, fing er an, schneller zu atmen. Das war der Moment, in dem er merkte, dass die Luft im Tunnel ungewöhnlich frisch war. So als würde man sich draußen befinden.

Thomas rannte weiter, grübelte noch immer über die Luft.
Als plötzlich gleißend helles Licht den Gang erfüllte und überraschte Aufschreie den stetigen Rhythmus der Schritte unterbrachen.

The Blood RiddleWhere stories live. Discover now