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Thomas wachte auf, als Minho ihn schüttelte.
"Wach auf Schlafmütze, du kannst abends wieder schlafen!"
Thomas rollte sich auf die Seite und stand auf.
"Du könntest mich auch ein bisschen sanfter wecken, weißt du?"
"Ich könnte, aber dann wirst du ewig brauchen. Mach schon, alle warten schon!"
Er joggte raus und Thomas war ihm dicht auf den Fersen.

Draußen erwarteten ihn unter anderem schon Aris, Sonya und Harriet. Sie und ein paar andere übernahmen praktisch die Aufgabe der Runner, nur mit dem Unterschied, dass sie diesmal keinen Ausweg suchten, sondern die Gegend erkundeten, um sich das Leben noch netter zu gestalten.
"Bereit?", fragte Harriet. Alle nickten.
"Dann lasst uns loslegen. Minho und James, ihr geht nach Norden. Aris und ich nehmen Süden. Sonya und Thomas nehmen Osten, und Diana mit Mary erkunden Westen. Alles klar? Bis heute Abend!"

Sie strömten aus in ihre angegebenen Richtungen. Sonya nickte Thomas kurz zu, das war alles, was er erwarten konnte. Seit sie in diesem Lager angekommen waren, hatte sie kaum etwas gesagt und etwas wie Trauer begleitete sie ständig wie eine dunkle Wolke. Thomas hatte nicht vor, sie danach zu fragen, sie würde wahrscheinlich nicht darüber reden wollen. Und selbst wenn, dann nicht mit ihm. Und wer war er schon, um Trost spenden zu können?


Das, was sie als Osten bezeichneten, war einfach die rechte Seite vom Lager aus, wenn man mit dem Rücken zum Meer stand. Man vermied die Orientierung an der Sonne. Einige, weil sie nicht wissen wollten, wo sie sich befanden. Andere, weil sie vergessen wollten, dass es tatsächlich noch eine zerstörte Welt außerhalb des Lagers gab. Und der Rest wusste einfach nicht, wie man sich daran orientierte.

Im Osten ging man die meiste Zeit am Strand entlang, bis man nach einigen Kilometern auf ein Kliff stieß. Der Strand war sandig, doch je näher man den Klippen kam, desto mehr Steine fand man zwischendurch. In den letzten Tagen hatten er und Sonya versucht, einen Weg nach oben zu finden. Sie hatten es mit Klettern probiert, doch dies erwies sich als anstrengend und beinahe unmöglich.

Ungefähr auf der Hälfte des Weges fand man kaum noch Vorsprünge in zum Klettern vernünftigen Abständen. Die anderen Truppen hatten dies zwar schon erwähnt, doch es schien keinen anderen Weg zu geben, also setzten sie einfach jedes Mal an einer anderen Stelle an.Nach zwei Wochen wechselte man die Truppen, um so mehr Entdeckungen zu machen, also waren Thomas und Sonya nicht die Ersten, die die Klippen erkundeten. Doch bis jetzt war man erfolglos geblieben.

Thomas sah sich genauer um, während Sonya versuchte, die Wand zu erklimmen. Zwar hatten sie schon einige Male nachgesehen und sogar schon einen Pfad gefunden, doch der hatte in einer Sackgasse geendet. Das ganze Spiel erinnerte Thomas schmerzlich an das Labyrinth. Noch immer sah er die Griewer in seinen Träumen, hörte Bens gequälte Schreie und sah Minho, wie er versuchte, Alby zu retten.

Thomas schüttelte den Kopf und wandte sich seiner Aufgabe zu. Er entdeckte einen Spalt, den sie bisher übersehen hatten. Mit etwas Anlauf sprang er auf den Vorsprung, dann sah er in den Spalt. Sonya und er würden durchpassen. Man erkannte, dass es einen Ausgang gab, weiter hinten, nach einem kurzen Marsch durch den engen Gang hinter dem Spalt.


"Sonya! Ich habe etwas gefunden! Lass uns diesen Pfad hier nehmen! Hoffentlich endet der nicht auch in einer Sackgasse."
Sonya drehte sich bei seinen Worten um und begann mit dem Abstieg. Nur eine Minute später sprang sie den letzten Meter und schon kurz darauf wanderten sie den Gang entlang, bis sie tatsächlich am Ende angekommen waren. Vor ihnen befand sich eine knapp zwei Meter hohe Felswand, doch die war leicht zu erklimmen.

Sonya setze einen Fuß auf einen Vorsprung und hielt sich mit den Händen an einem anderen fest. Thomas folgte ihrem Beispiel. Sonya hat schon öfters bewiesen, dass sie gut im Klettern war. Das warf bei Thomas die Frage auf, wo sie es gelernt hatte. Im Labyrinth der Gruppe B? Bei WICKED? In ihrer Kindheit? Doch wann und wo sollte sie Gelegenheit dazu gehabt haben? Sonyas Stimme über ihm riss Thomas aus seinen Gedanken.

"Dort geht es weiter. Aber wieder nach unten oder oben."
Sonya tat einen Schritt nach vorne und sah sich um. In einiger Ferne konnte man das Meer sehen, das Lager hingegen war außer Sichtweite. Geradewegs fand man eine steinerne Fläche, die bergauf ging. Rechts hingegen ging es bergab, aber einige Bäume verschränkten größtenteils den Blick auf das, was dahinter lag.

"Lass uns erstmal nach vorne gehen."
Sie bewältigten den Weg. Bis auf steinernen Grund und Staub gab es keine Hindernisse. Am Himmel hingen einige Wolken, doch nach Regen sah es es nicht aus. Thomas hatte auf Regen gehofft, der letzte lag einige Wochen zurück. Am Ende des Aufstiegs befand sich Rasen. Sonya bückte sich und riss einen Büschel aus.

"Warum-", setzte Thomas an.
"Das Gras hier ist nicht vollständig ausgetrocknet, also muss es hier erst vor Kurzem geregnet haben."
Thomas dachte nach. Sie hatte recht. Das Gras in der Nähe ihres Lagers war vollkommen ausgetrocknet.
"Und was bedeutet das?"
"Überleg mal."

Regen, besseres Gras, was war daran so besonders? Thomas sah weiter nach vorne.
Danach befand sich schon wieder Wald, doch dieser war ziemlich dicht, nicht so wie die Wälder, die sie am Lager hatten. Da hatten die Bäume einen gewissen Abstand und waren nicht so grün.
"Gras und Bäume sind grüner und wachsen besser. Also muss es hier öfter regnen als bei uns, auch wenn das Lager nicht weit weg ist. Das heißt aber auch, dass hier mehr Tiere leben könnten, da man hier besser Nahrung findet."

Sonya nickte. "Wir sollten den Nahrungssuchern einen Tipp geben. Sonst noch was zu sehen?"
"Nichts. Wir hätten den anderen Weg nehmen sollen."
"Dann lass uns zurück und den Pfad nach rechts nehmen. Ich bezweifle zwar, dass wir da viel finden, aber einen Versuch ist es allemal wert."
Thomas nickte und sie machten sich auf den Rückweg. Beim rechten Pfad angekommen, hielt Sonya eine Hand hoch und brachte Thomas so zum Stoppen.

"Was ist los?"
"Psht!"
Sonya bewegte ihren Kopf nicht, doch Thomas konnte sich bildlich vorstellten, wie ihre Augen die Umgebung absuchten. Also tat er das auch. Nach einiger Zeit gab Thomas aber auf.
"Hier ist nichts."
"Nur weil wir es nicht sehen, heißt es nicht, dass es nicht da ist. Aber etwas hat definitiv ein Geräusch gemacht."
Sie lauschte angestrengt, doch Thomas hatte vorhin nichts gehört und jetzt änderte sich nichts daran.

"Vielleicht sollten wir-"
"Psht! Da war was!"
Jetzt hörte Thomas es auch. Ein leises Geräusch, das ihn entfernt an etwas erinnerte. Doch er konnte sich beim besten Willen nicht entsinnen, welche Erinnerung er damit verband.
Ein Rascheln, so als würde ein kleines Tier durch Unterholz rennen. Doch das traf es nicht ganz. Da war noch ein anderes Geräusch drunter...
Bevor Thomas den Gedanken fortführen konnte, sprintete Sonya los und ließ ihn verwirrt stehen. Ohne länger zu überlegen, rannte Thomas hinterher.

"Sonya! Wohin rennst du?" Sie antwortete nicht, hörte ihn vermutlich auch nicht. Das Knacken, das die Äste unter ihren Füßen verursachten, half auch nicht gerade. Thomas fragte sich, woher die ganzen Äste und Holzreste kamen, wenn der Wald noch einige Meter weit weg war. Er hatte keine Zeit, sich den Weg zu merken, sonst riskierte er, Sonya zu verlieren. Er musste sich ganz auf seine Instinkte verlassen.


Sonyas Sprint dauerte nur kurz, nach einigen hundert Metern hielt sie inne.
"Wir haben es verloren", sie sah zur Sonne, "Lass uns zurückgehen. Die Sonne wird anfangen unterzugehen, wenn wir im Lager ankommen."
Sie machte sich auf den Rückweg und Thomas folgte ihr. Überraschenderweise schien das Mädchen genau zu wissen, wo sie lang musste.

"Sag mal, warst du auch ein Runner?"
"Ein Runner? Ach; eine Sucherin. Wir haben uns Sucher genannt, weil wir einen Ausgang aus dem Labyrinth gesucht haben. Aber ja, ich war eine. Und du?"
"Ich war ein Runner, aber nicht sehr lange. Schließlich sind wir kurz nach meiner Ankunft rausgekommen."
Sonya nickte, dann hing Stille zwischen ihnen. So blieb es bis zum Lager. Nur wenige Meter trennten sie von ihrem Wohnort, als Sonya ihren Mund öffnete, um etwas zu sagen. Doch noch bevor sie auch nur einen Laut herausbringen könnte, erklang ein lauter Schrei.

The Blood RiddleWhere stories live. Discover now