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Die nächsten Tage verflogen reichlich ereignislos. Minho begegnete nahezu täglich Newt, der noch immer auf Erkundungstour war, wobei er gelegentlich auch in die anderen Stockwerke gelangte. Abgesehen davon wurde er allerdings ständig zu Untersuchungen gebracht.

Die Ergebnisse dieser bekamen Minho und seine Freunde nur selten mit. Sie erledigten Aufgaben, die mal mehr und mal weniger sinnvoll schienen. Jeden Tag hörten sie die Phrase "Wir sind unglaublich nah an der Lösung dran." und obwohl sie eher wie ein Mantra erschien, verlieh sie ihnen Antrieb.

Insgeheim war Minho dankbar für einige der simplen Aufgaben. Sie erforderten nicht viel Energie und hielten ihn beschäftigt. Im Sicheren Hafen hatte er direkt nach der Ankunft eine der Führerrollen übernommen und nun erschienen ihm die Beschäftigungen im Komplex als eine Art Urlaub davon.

An diesem Tag, wie auch an einigen Tagen zuvor, ordneten seine Freunde und einige Aufzeichnungen, die die Mitarbeiter in Eile gemacht und es dann nicht für nötig gehalten hatten, sie zu sortieren. Ihre Aufgabe bestand wesentlich in der Digitalisierung der Aufzeichnungen, sie mussten praktisch nur abtippen. Wäre da nicht ein Problem.

"Wer soll das überhaupt lesen können?", Jorge war einige seiner Blätter frustriert in die Luft, sammelte sie aber schnell wieder auf.

"Ich verstehe ja, dass sie in Eile waren und wahrscheinlich nach dem erstbesten Schreibgerät gegriffen und beim Schreiben kein Auge von ihrem Objekt genommen haben, aber kann man Wörter nicht wenigstens ausschreiben?", ergänzte Harriet, "Was soll 'e. R. n. Z. 2' heißen? Hinter der Zwei steht eine Formel, aber sind die Ziffern in ihr lesbar? Schön wär's."

"Immerhin kannst du das überhaupt lesen. Wer auch immer das hier geschrieben hat, sollte lernen, dass man mit einem Bleistift tatsächlich aufdrücken muss, damit er lesbar schreibt.", Aris winkte mit einem Blatt, dass auf den ersten Blick leer und hellgrau wirkte, bei genauerem Hinsehen allerdings dünn beschrieben war.

"Meins hat jemand mit einer sehr guten Schrift geschrieben.", verkündete Brenda. "Meins auch, allerdings sind hier mehr Abkürzungen und Zeichen als Wörter.", Minho hob sein Blatt. Glücklicherweise hatten sie ein Verzeichnis bekommen, in dem häufig auftretende Zeichen und Abkürzungen erklärt wurden. Leider half das nicht immer.

"Harriet, leg deines einfach auf den Stapel mit den Leuten, die wir später suchen müssen. Hinter die Abkürzungen kommen wir nicht.", schlug Thomas nach einem Blick darauf vor.

In den letzten Tagen hatten sie vorgestellt, dass es bei einigen Blättern sinnvoller war, sie zur Seite zu legen und später die Autoren aufzusuchen, denn glücklicherweise waren alle Aufzeichnungen mit Namen versehen.

Sie arbeiteten in Stille weiter, ab und zu unterbrochen von verwirrten Grunzern oder frustriertem Aufatmen.

"Hat eigentlich jemand etwas Neues über den Zustand von den Leuten auf der Krankenstation gehört? Oder den von Newt?", erkundigte sich Thomas. Sonya nickte. Minho hatte beschlossen, sie einfach weiter so zu nennen. Sie selbst schien auch nichts dagegen zu haben.

"Nicht unbedingt etwas Neues, auf der Krankenstation tut sich nicht wirklich was. Aber zu Newt sind letztens einige Berichte eingegangen. Scheinbar erlebt er seltener Anfälle und seine Gehirnaktivität verbessert sich. Wobei sein Zustand noch immer als 'verwirrt, emotional leer und abwesend, mit kurzen Perioden der Klarheit' beschrieben wird. Ehrlich gesagt klingt das etwas übertrieben und ungünstig ausgedrückt, aber das war der unbearbeitete Bericht. Auf den fertigen habe ich keinen Zugriff."

"So verwirrt erschien er mir nicht, die paar Mal, die ich ihm über den Weg gelaufen bin.", versetzte Harriet. Minho schüttelte den Kopf. Newt war beinahe wieder so klar im Kopf, wie alle in diesem Raum, doch sobald jemand anderes als seine Freunde in Sicht kam, veränderte sein Verhalten sich drastisch.

Wobei Minho das Gefühl hatte, Newt würde gegenüber den Anderen etwas zurückhaltender sein. Einmal hatte er ihn darauf angesprochen. Zur Antwort hatte er ein Schulterzucken bekommen. "Mein Gehirn handelt, ohne mich zu fragen." Das hatte Minhos Frage zwar nicht beantwortet, aber er hakte nicht weiter nach.

Anscheinend war Newt ein sehr guter Schauspieler, wenn er eine Reihe Wissenschaftler weiter so an der Nase rumführte.

Am Abend lief Minho durch die verschiedenen Stockwerke, auf der Suche nach den Leuten von seinem "Nachfragen ist die letzte und einzige Option, um hieraus noch schlau zu werden"- Stapel. Ihm fehlte nur noch ein Bericht, als er vor einer angelehnten Tür im dritten Untergeschoss stehenblieb.

"Die Extraktionen verlaufen erfolgreich, ich denke, wir sollten sie noch eine Weile fortsetzen. Ihr Zustand erlaubt es und das künstliche Koma ist leicht aufrecht zu erhalten.", verkündete eine weibliche Stimme.

"Das sind erfreuliche Neuigkeiten. Wurden in der Entwicklungsabteilung damit Ergebnisse erzielt?" Ava Paige. Definitiv ihre Stimme. Minho sah sich im leeren Gang um und rückte näher an die Tür heran.

"Wir werden bald schon unsere ersten Versuche durchführen." Eine kurze Pause folgte, dann: "Dann sehe ich nicht, was dagegen spricht. Allerdings würde ich die Probanden bald wieder aufwecken. Abgesehen davon, dass die Produktion dann schneller verläuft, möchte ich sie nicht ewig im Koma halten und Skepsis hervorrufen."

"Bei allem Respekt, das haben Sie bereits. Ich halte die Gruppe um Thomas und Minho für reichlich skeptisch. Das haben sie auch schon mehrmals gezeigt. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wieso wir nicht etwas dagegen unternehmen. Sie könnten versuchen, unsere Pläne zu verhindern."

Ava räusperte sich. "Das verstehe ich, werde ich aber nicht debattieren. Wir haben sie schon zu genug gezwungen, es wird Zeit, dass wir mit ihnen arbeiten, statt an ihnen." Minho hatte seine Hände zu Fäusten geballt und schüttelte diese, um sie zu lockern. Mit ihnen? Witzig.

"Wie Sie meinen. Wie laufen ihre Forschungen bezüglich den Unterschieden innerhalb einer Familie?" "Sehr gut. Wir glauben, die Antwort gefunden haben und müssen nur noch einige Test durchführen, um die Hypothese zu stützen. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um eine Genmutation, die rezessiv vererbt wird." "Wie Sie vermutet hatten." "Richtig."

Die Schritte näherten sich der Tür. Minho sah sich nach einem Versteck um, fand in dem leeren Flur allerdings keines. Er wich einige Schritte zurück, bevor die Tür sich öffnete und zwei überraschte Gesichter ihm entgegensahen. Ava räusperte sich und verschränkte ihre Hände.

"Minho. Können wir dir irgendwie helfen?" Er nahm das oberste Blatt von seinem Stapel und hielt es hoch. "Ich bin auf der Suche nach...", er blickte auf den Namen, "Doktor E. McLain."

"Das bin ich.", antwortete die junge Frau neben ihr. Sie verengte ihre Augen skeptisch. "Wieso?" "Ich habe einige Fragen zu Ihren Aufzeichnungen. Wir konnten sie nicht entschlüsseln." Auf den leichten Vorwurf in seiner Stimme hin runzelte Doktor McLain die Stirn.

"Folge mir nach unten und wir klären sie auf dem Weg.", befahl sie nach kurzem Zögern. "Noch was.", unterbrach Minho, bevor sie sich abwenden konnte. Er sah zwischen Ava und der jungen Frau hin und her. "Gibt es Neuigkeiten bezüglich unserer Freunde auf der Krankenstation?"

Ava und Doktor McLain tauschten einen flüchtigen Blick. "Nein, nicht wirklich. Ihr Zustand bleibt weiterhin stabil, aber wir überwachen ihn weiter. Sobald sich etwas ändert, geben wir euch selbstverständlich Bescheid."

Minho nickte. "Richtig. Mich wundert nur, dass sie so lange im Koma liegen. Schließlich sind Monate vergangen."

"Das ist vollkommen normal.", verteidigte Doktor McLain. Sie verschränkte ihre Arme und fuhr fort. "Eine vollständige Erholung beansprucht Zeit, das lässt sich nicht umgehen. Es wäre nicht in unserem Interesse diese zu stören, richtig?" Sie sah Minho herausfordernd entgegen. Er brach den Blickkontakt nicht.

"Natürlich nicht. WICKED handelt schließlich aus selbstlosen Motiven heraus.", antwortete er nach einem kurzen Blickduell. Die Augenbrauen der jungen Doktorin schossen kurz erstaunt hoch, zogen sich aber bald darauf wieder skeptisch zusammen.

"Gehen wir. Schließlich wollen wir alle heute noch zum Essen und Schlafen kommen, nicht?", mischte Ava sich ein. Minho sah zu ihr und nickte. "Stell mir deine Fragen, solange wir nicht im untersten Geschoss sind. Ich habe noch einiges zu tun.", erklärte Doktor McLain und wandte sich ab, in raschem Schritt auf die Treppen zugehend.

The Blood RiddleWhere stories live. Discover now