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"Verdammt! Wie zur Hölle hat das bitte passieren können!?" Minho schlug frustriert gegen die staubigen Wände der Schlucht. Zwei Tage waren vergangen, sie hatten das Gebäude fast erreicht. Wäre da nicht diese Schlucht gewesen, in die sie alle auf unerklärliche Weise reingeraten waren und aus der es keinen Ausgang zu geben schien.

Sie waren gerade einen weiteren Berg hinuntergestiegen. Aris, der als Letzter gegangen war, sprang ab und landete neben seinen Freunden. Es war nebelig geworden und man sah kaum zehn Meter weit. Doch die Schlucht schien von einer Sekunde auf die andere aufzutauchen.

Sonya war vorausgegangen, zielstrebig wie eh und je, als man sie plötzlich schreien hörte. Sofort waren sie losgerannt und alle in diese kleine Schlucht gefallen, die eher ein übergroßes Erdloch war. Der Fall betrug vielleicht fünf Meter, ständig von irgendwelchen Steinchen unterbrochen, die ihnen ins Gesicht flogen. Überraschenderweise war der Boden voller Schnee, auf dem sie zwar mehr oder weniger weich landeten, der sie aber mit den Zähnen klappern ließ und trotzdem einige Prellungen verursachte.

Minho ließ sich wütend in den Schnee fallen und Thomas konnte es ihm nicht verübeln. Wie lange saßen sie schon hier fest? Drei Stunden oder vier? Jedenfalls spürte er seine Füße nicht mehr. Hier war es kalt genug dafür, dass der Schnee nicht schmolz. Die Wände hochklettern konnte man nicht. Zum Einen waren sie rutschig, kein Wunder bei dem Frost. Zum Anderen waren sie absolut glatt, bis auf ein paar Vorsprünge hier und da, die zu bedacht platziert waren. Menschengemacht, genauso wie die Kälte. Thomas kam eine Idee. Er begann, im Schnee zu graben.

"Ich rate dir, das zu lassen. Solange deine Hände noch Gefühl haben." Thomas sah zu Minho, dessen Haare voller Schnee waren. Er war sich so oft mit den Händen durch sie gefahren, dass selbst seine Haare gefroren waren. Momentan lehnte er an einer der Wände.
"Ich verstehe das nicht. Warum sollte man so eine Schlucht bauen? Wo ist der Sinn?"
"Ich dachte, du hättest längst aufgehört, das zu hinterfragen."
"Sollte ich vielleicht auch. Aber wenn ich den Sinn finde, finde ich womöglich auch den Ausgang."
Minho ließ ein

en frustrierten Seufzer hören.
"Hör her, shank. Gib's auf! Wir sitzen hier fest, siehst du das nicht? Es ist naiv zu denken, dass wir hier rauskommen. Überhaupt war diese ganze Idee wahnsinnig!"
Thomas war überrascht. Minho war der letzte Mensch, von dem er solche Worte erwartet hätte, er schien immer Kampfgeist zu haben, was immer auch geschah. "Sag mal, seit wann bist du so hoffnungslos? Wo ist dein Kampfgeist?"

"Zum Teufel mit Hoffnung! Uns hat das nur noch größere Schwierigkeiten gebracht als wir sie schon so hatten!" Er wandte den Kopf ab und sprach leiser weiter.
"Als wir im Labyrinth nach einem Jahr noch immer nichts gefunden hatten, war meine einzige Motivation, das alles noch weiterzumachen, Newt. Ich wusste, dass wenn ich die Suche aufgebe, ich auch ihn aufgebe. Versteh mich nicht falsch, ich ruhe nicht, bis ich etwas geschafft habe, aber jeden Tag, den ganzen Tag durch ein ständig wechselndes Labyrinth zu rennen, um irgendwo einen Ausgang oder Sinn zu finden, kam mir nach einer Zeit echt idiotisch vor. Doch nachdem, was Newt...passiert ist, wusste ich, dass ich nicht aufhören durfte. Wenn ich es tat, würden es auch alle anderen tun. Du wirst gemerkt haben, dass ich nicht immer die freundlichste Person bin, also hatte ich auch nicht sonderlich viele Freunde. Newt war so gut wie mein Einziger und die Angst davor, diesen zu verlieren, hat mich ständig angetrieben. Zweifellos ist das auch Teil meines Charakters, aber im Moment sehe ich wirklich keinen Sinn in dem Ganzen. Wozu hoffen und ständig weiterlaufen, wenn ich es doch eh nicht schaffe? Genauso, wie ich es nicht geschafft habe, meinem besten Freund zu retten."

Im Zuge war Minho immer leiser geworden, so als würde er mit sich selbst reden. Thomas, der trotzdem alles gehört hatte, sah Minho mit offenem Mund an, die Augen weit geöffnet. Minho selbst hatte den Kopf zur Seite gewandt. Er hat noch nie so viel auf einmal geredet, ganz zu schweigen von Gefühlen, die er zum Ausdruck gebracht hatte. Minho sah wieder zu Thomas.
"Mund zu oder du verschluckst dich noch an einer Fliege."
Thomas schloss den Mund, um ihn kurz darauf wieder zu öffnen, aber er wurde von Minho unterbrochen.

"Spar's dir. Ich bin nicht plötzlich emotional instabil und benötige auch nicht deine Kommentare dazu."
"Du weißt davon. Du weißt von Newts Selbstmordversuch."
Minho verdrehte die Augen.
"Natürlich weiß ich davon. Mich wundert eher, dass du Bescheid weißt." Wieder drehte er seinen Kopf zur Seite, nachdenklich auf den weißen Schnee blickend.

"Als ich am Abend aus dem Labyrinth kam und nach dem Kartenraum von Alby direkt zu Newt geführt wurde, habe ich überhaupt nicht verstanden, was vor sich ging. Mir war klar, dass etwas anders war, denn Newt stand normalerweise neben mir, wenn ich wiederkam, der Junge war teils ganz schön anhänglich, aber damit hatte ich definitiv nicht gerechnet. Du kannst nicht behaupten, dass Newt- oder sonst jemand im Labyrinth- sehr glücklich mit seinem Leben war, aber Selbstmord? Als ich den Raum betrat und Newts verbundenes Bein sah, war mir klar, dass es nicht richtig verheilen würde. Ich denke, er wusste es in dem Moment auch." Minho lachte trocken auf.

"Wenn du glaubst, Hoffnungslosigkeit je gespürt oder gesehen zu haben, dann muss ich dich enttäuschen. Das, was ich auf seinem Gesicht sah, definierte das Wort komplett neu. In dem Moment habe ich mir geschworen, nicht aufzuhören, bis ich einen Ausweg finde. Er war ein Bruder für mich, auch wenn ich keine wirkliche Vorstellung von diesem Wort hatte. Wirklich, ich bin sturköpfiger als der Teufel selbst, aber das hat mich noch weiter gepuscht." Er verstummte, drehte sich aber auch nicht wieder zu Thomas.

"Ehrlich gesagt, hätte ich nicht gedacht, dass du es weißt. Manchmal warst du nicht gerade...empathisch."
"Ich verstehe, was du meinst. Das hat zwei Gründe.", Minho verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein und sprach weiter, das Gesicht noch immer abgewandt, "Erstens sah ich keinen Sinn darin, ihn anders zu behandeln. Klar, ich habe mehr aufgepasst, sehr unauffällig, aber dennoch. Zweitens wusste ich, dass Newt es mir nie verzeihen würde, wenn ich angefangen hätte, ihn irgendwie anders zu behandeln."

Da hatte er vermutlich Recht. Newt hatte niemandem richtig erzählt, was geschehen war und er hatte seine Gründe dazu. Nichtsdestotrotz, Thomas war überrascht von Minhos plötzlicher Rede. Nicht nur überrascht, eher erstaunt. Es sah ihm nicht ähnlich und ausgehend von seinem Verhalten hätte Thomas nie vermutet, dass er einige Sachen so empfand. Minho stand noch immer mit abgewandtem Gesicht da.
"Minho?"
"Was ist?"
Thomas blieb stumm, in der Hoffnung, dass Minho sich zu ihm drehen würde. Doch er tat es nicht.
"Minho!" Der Asiate stöhnte genervt.
"Was ist?"
"Willst du dich nicht umdrehen? Dein Nacken wird später wehtun.", sagte Thomas. Mehr, um die Atmosphäre zu lockern, als Scherze auf Minhos Kosten zu machen.

Tatsächlich wandte Minho seinen Kopf und schoss tödliche Blicke in Thomas' Richtung. Thomas war vieles gewohnt. Tödliche Blicke, WICKEDs Überraschungen, den Verlust von Menschen-wobei man sich auch daran nie richtig gewöhnte-, selbst das Übelkeitsgefühl, das ihn öfters erfasste. Aber definitiv nicht die feucht schimmernden Augen von Minho. Dieser musste seinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet haben, denn er stieß sich von der Wand ab und ging zu einer anderen. Es waren nur wenige Meter Unterschied, aber er stand jetzt mit dem Rücken zu Thomas.

"Klettern ist also sinnlos, ja? Mal sehen, ob das hier was bringt."
Minho holte aus seinem Rucksack ein Messer und rammte es in die Wand. Jedenfalls versuchte er es, denn das Messer rutschte einfach nur aus und flog in den Schnee. Minho seufzte und starrte es an, hob es aber nicht auf.
"Na gut, dann nicht."

Ohne, dass Thomas es merkte, hatte Harriet sich neben ihn gestellt.
"Was ist denn mit dem los?" Thomas zuckte nur mit den Schultern. Minho hatte zwar nichts in die Richtung gesagt, aber er war sich sicher, dass er ihn umbringen würde, wenn er jemandem verriet, was der in den letzten Minuten gesagt hatte.
"Er ist so frustriert von der Aussichtslosigkeit, dass er aus Aussichtslosigkeit versucht, mit der Aussichtslosigkeit fertig zu werden, was auch aussichtslos ist."
"Was? Thomas, manchmal bist du echt verwirrend."
"Ich weiß." Kopfschüttelnd ging Harriet weg. Thomas dachte über ihre Möglichkeiten nach, als plötzlich ein lautes Rumpeln ertönte, direkt in der Schlucht.

The Blood RiddleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt