Kleber

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Jemand stupste mich an. Murrend vergrub ich mein Gesicht weiter in mein Kissen, bis dieser jemand mich noch einmal anstupste. "Waaas?", beschwerte ich mich und drehte mich um. Und verstummte sofort. Vor mir stand meine komplette Familie und alle meine Freunde. Verwirrt musterte ich sie. Alle sahen besorgt aus und meine Schwester hatte sogar Tränen in den Augen. "Was- ähh, achso. Sorry", wandte ich mich an Olaf, der ziemlich peinlich berührt aussah. "Nur eine halbe Stunde, wenn ihr alle bleiben wollt. Und über Nacht darf nur einer bleiben." Einstimmiges Nicken. Olaf verließ eilig den Raum. "Leute-", hob ich an. Schon prasselten Fragen auf mich ein. Ich konnte nicht eine beantworten, bis Melody plötzlich die Stimme erhob. "Hey! Lasst sie doch mal was sagen!" Alle verstummten und ich sah sie dankbar an. "Mir geht's gut. Ich darf morgen aus dem Krankenhaus, ihr müsst euch keine Sorgen machen und ich finde, ihr reagiert über. Ihr wart fast alle schon im Krankenhaus." "Ja", sagte Alex, "aber du bist die Starke hier." Ich runzelte die Stirn. "Du bist unser sicherer Fels in der Brandung", klinkte sich Tay ein. "Unser tapferer Kleber", schloss sich Melody an. Alle sahen sie überrascht an. "Was?", meinte Melody, "sie ist diejenige, die alles zusammenhält. Unser Kleber." Gerührt sah ich all die Menschen an, die mir wichtig waren. "Ich glaub, ich werde jetzt öfters ohnmächtig", scherzte ich, aber niemand lachte. "Wage es ja nicht", sagte Melody schlicht. "Anyways, es kann nur einer über Nacht bleiben." Meine Leute sahen sich um. Meine Mutter trat vor. "Ich, natürlich. Ich bin ihre Mutter!" Meine Familie nickte zustimmend, aber meine Freunde protestierten: "Melody ist aber ihre Freundin!" Ich verdrehte die Augen. "Hallo, Aufmerksamkeit!" Alle Augenpaare drehten sich zu mir. "Alex soll hier bleiben." Ein Jauchzen kam von meinem besten Freund, aber Melody sah mich irritiert an. Ich streckte die Hand aus und sie nahm sie. "Ich brauche gerade etwas schwule Unterstützung, wenn du weißt, was ich meine." Sie nickte, aber ihre Augen sagten mir, dass sie verletzt war. Ich wollte noch etwas sagen, aber dann fing Alexander auch schon an, darauf loszuplappern: "Ich schwör, wir waren alle so geschockt, als du plötzlich hinten über gekippt bist, vor allem, wie hast du das überhaupt geschafft? Naja, jedenfalls, Melody hier-", er zeigte zur Veranschaulichung auf meine Freundin, "ist sofort aufgesprungen und hat deinen Kopf auf ihren Schoß genommen, dich gestreichelt und auf dich eingeredet, während Tay schnell den Notarzt gerufen hat und ich deine Eltern benachrichtigt habe. Unsere Lehrerin hat bei alle dem ziemlich perplex ausgesehen. Als der Notarzt dann da war, haben sie gesagt, dass nur einer mit in den Wagen darf und wir haben natürlich Mel genommen, immerhin ist sie deine Freundin. Ich glaub, du hast sogar geweint, oder?" Melody starrte ihn mit tödlichem Blick an. "Möglich." Ääähh, ja-", hob er wieder an, "-wir als supertolle Freunde sind natürlich gleich hinterhergefahren mit dem Fahrrad und als wir angekommen sind, hat man uns gesagt, dass es dir gut gesht, aber du noch schlafen würdest und wir dich erstmal in Ruhe lassen sollten. In der Zwischenzeit sind deine Eltern und deine Schwester aufgetaucht und haben Panik geschoben, während Mel einfach nur dasaß und im Stillen Angst um dich hatte. Dann wurden wir hier reingeholt und ja...jetzt sind wir hier." "Klingt wie ein kitschiges Drama", sagte ich grinsend. Ein allgemeines Lachen ging durch die Runde.
Wir redeten dann längere Zeit nur über Unwichtiges und Normales. "Ach übrigens", setzte Tay an, "die Geo-Tussi hat den Test abgebrochen und wir schreiben ihn nächste Woche noch einmal, naja, halt einen anderen, aber du musst nicht mitschreiben. Sie hat gesagt, sie lässt deine mündliche Zwei einfach doppelt zählen." Ich hob eine Augenbraue. "Wann hab ich mir bitte eine Zwei verdient?" Meine Freunde zuckten unwissend mit den Schultern. "Keine Ahnung, ich glaub, die mag dich einfach. Vielleicht ist sie ja lesbisch." Alexander wackelte mit den Augenbrauen und Melody räusperte sich, zum Vergnügen aller, laut. Da klopfte es auch schon an der Tür und Olaf kam hinein. Lächelnd schmiss er alle bis auf Alexander hinaus. Er sah uns beide prüfend an und sagte: "Kein Sex mit einem Patienten." Ich und mein bester Freund prusteten los. Nach Luft schnappend sagte Alex: "Ich- glaube da müssen sie sich- keine Sorgen machen." Ich nickte einfach grinsend. Olaf zwinkerte uns zu. "Dachte ich mir schon fast. So besorgt wie das Mädchen mit den schwarzen Haaren war, habe ich es kaum für möglich gehalten, dass ihr nur befreundet seid." Ich wurde rot. "Ist das so offensichtlich?" Sie nickten synchron und fingen dann an zu lachen. "Olaf?" Der Arzt sah wieder zu mir. "Ja bitte?" "Sind sie zufällig schwul?" Lachfältchen bildeten sich nahe seiner Augen. "Nein, aber ich bin bi. Habe ich so eine tolle Ausstrahlung oder was?" Wie eine Diva warf er sein nicht vorhandenes Haar zurück und stolzierte zur Tür. "Alt und knackig bin ich immerhin schon." (Versteht ihr? Knackig? Wegen den knacksenden Gelenken?😂😂😂Okay, sorry😅) "Naja, euch beiden noch viel Spaß, ich hab noch was zu tun, bis dann!" Er winkte und wir winkten lachend zurück. "Mein Arzt damals war nicht so cool", sagte Alex schmollend. "Ja", antwortete ich grinsend, "du hast es ja auch nicht verdient." Entsetzt starrte er mich an. "Was erlauben sie sich, junge Frau?!" Ich lachte einfach nur, während er wie auf einem Laufsteg vor mir hin und her stolzierte und mir einen langen Vortrag über Manieren hielt. Und für einen Moment vergaß ich meine Sorgen.

Eine Lesbe kommt selten allein | ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt