Kapitel 35

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„Ich hab das schon länger nicht mehr gemacht. Also sei nicht zu streng mit mir."

„Ally", meinte ich ruhig. „Wie oft hab ich mich schon vor dir blamiert? Wir sind da sowieso im Ungleichgewicht – wird Zeit, dass du das ausgleichst."

Schmunzelnd schüttelte sie den Kopf und richtete dann den kleinen Hocker, der vor dem Flügel stand. Ich musterte sie genau, als ihre Finger über den weißen und schwarzen Tasten des Klaviers schwebten und sie versuchte, sich an die Noten zu erinnern. Zaghaft begann sie eine kleine Melodie zu spielen, die für mich wie ein Schlaflied klang. Und dann setzte sie noch einen drauf und katapultierte mich aus meinen Socken.

Now the night is coming to an end", sang sie. Ihre Stimme klang unbeschreiblich weich, verletzlich und verdammt, ich hätte sie gerade so gerne geküsst und meine Hände in ihrem dunkelblonden Haar vergraben, aber ich wollte nicht, dass sie zu spielen aufhörte. „The sun will rise and we will try again."

Etwas durch den Wind packte ich meine Kamera aus. Ja, ich machte definitiv Fortschritte als Fotograf. Immerhin hatte ich sie diesmal nicht vergessen. Im Gegenteil: Ich hatte, kaum, dass wir angekommen waren, wundervolle Bilder von Gryffindor und Ally geschossen, die einen Platz auf jeder Wand meiner Wohnung verdient hätten.

In diesem Moment war Ally allerdings so in dem Lied versunken, dass sie überhaupt nicht bemerkte, was ich tat. Bis das leise Klicken des Auslösers zu hören war und ihr Blick zu mir schnellte.

Ein falscher Ton. Noch einer. Stille.

„Hast du gerade ernsthaft ein Bild von mir gemacht?" War das eine Drohung? Es klang so drohend. Es klang nicht gut.

Aber ich drückte nur wieder auf den Auslöser und fing Allys säuerlichen Blick ein. „Nein, würde ich niemals tun", gab ich grinsend von mir.

„Du bist mit Abstand der größte Idiot, der mir je untergekommen ist."

„Dann musst du ja noch bescheuerter sein, wenn du dich immer noch mit mir abgibst."

Sie stand auf und trat zu mir. „Schau. Schau dir diese Glaswand an", meinte sie plötzlich und zeigte auf das überdimensionale Fenster in diesem Raum, das tatsächlich fast die gesamte Wand ausfüllte. Von hier sah man einen kleinen Garten, mehrere Nachbarhäuser und in einiger Ferne erkannte man Bradburys Aussichtsturm – das Wahrzeichen der Stadt.

„Was ist damit?", fragte ich und runzelte die Stirn.

„Du hast mich gerade auf eine Idee gebracht. Theoretisch konnte man doch die Scheibe einschlagen und ungebetenen Gästen einen klitzekleinen Schubser geben." Herausfordernd sah sie mir in die Augen.

„Gut, dass ich kein ungebetener Gast bin, was?" Ich lehnte meine Stirn an ihrer an und schloss die Augen. Atmen, Ben. Bloß nicht vergessen, Luft zu holen.

Im nächsten Augenblick gab uns Allys Mutter mit einem lauten Ruf Bescheid, dass das Essen fertig war und wir entfernten uns voneinander.

Genau wie ihre Mum, wirkte auch Allys Vater recht locker. Sein kariertes Hemd hatte er bis zu den Ellbogen aufgekrempelt, die dunklen Haare wiesen schon einige graue Strähnen auf, was ihn aber nicht zu stören schien und seine Augen waren hinter einer modernen Brille mit großen Gläsern und breitem Rahmen verborgen.

„Jonathan", stellte er sich vor, als er mit einem offenen Lächeln meine Hand schüttelte.

„Ben", gab ich zurück. Irgendwie fühlte ich mich neben ihm wie ein kleiner Junge. Ich ertappte mich dabei, absichtlich mit tieferer Stimme gesprochen zu haben.

„Martha hat heute extra für dich Kürbiscremesuppe gekocht, Allison", teilte uns ihre Mutter mit. Okay, scheinbar hatten sie eine Köchin. Der Tisch war bereits gedeckt und ich fragte mich, ob auch das vom „Personal" übernommen wurde.

Pistazieneis zum FrühstückWhere stories live. Discover now