Kapitel 12

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Die nächste Woche verging so gähnend langsam, als hätte jemand die Slow-Motion-Taste in meinem Leben betätigt. Mein Kontakt zu Ally beschränkte sich auf ein paar Nachrichten und einen Anruf von mir, den sie gekonnt abgewimmelt hatte, weil sie ja lernen musste. Ansonsten herrschte ziemliche Funkstille.

Aber als ich am Donnerstag mit meiner Kamera in der Tasche mit der Straßenbahn Richtung Stadtpark fuhr, weil das Wetter zu schön war, um nur in der Wohnung zu hocken, sah ich Liz. Sie stand ein paar Meter von mir entfernt Hand in Hand mit einem Kerl, der vielleicht einen oder zwei Zentimeter größer war als sie selbst. Falls sie mich auch entdeckt hatte, zeigte sie es nicht. Ihr Blick triefte wie immer vor Abneigung gegen die ganze Welt und die Sünder, die sie besiedelten – oder so ähnlich. Dann begann ihr Freund zu reden. Irgendwas völlig Unbedeutendes, absolut nicht Weltenveränderndes. Aber sie drehte ihren Kopf in seine Richtung und lächelte. In diesem Moment verlor sie all ihre Kratzbürstigkeit, all die Negativität hatte keinen Platz mehr in ihr.

Ich schätze, das muss Liebe sein.

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„Das war bis jetzt deine beste Definition von Liebe", meinte Nicky. Schon ironisch, dass sie gar nicht von Ben und Ally selbst handelte – fand zumindest Nicky. Aber vermutlich war es häufig einfacher, die Gefühle anderer in Worte zu fassen als die eigenen.

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Nach Hause zu kommen, hatte immer etwas Tröstliches an sich. Es fühlte sich ein wenig so an, als würde man am kältesten Wintertag von draußen in einen warmen, windgeschützten Raum treten. Plötzlich spürt man seine Beine und Arme wieder und man kann die Hände aus den Jackentaschen nehmen, ohne dass sie sofort abfallen.

So fühlte ich mich auch an diesem Wochenende, als ich – frisch in unserer Kleinstadt angekommen – durch die Türen der Bäckerei trat, die direkt mit unserem Haus verbunden war. Ich ging weiter in die Küche, wo schon eine halbe Erdbeercremetorte und eine Kanne Kaffee bereit standen. Und meine wenig begeistert dreinschauende Mutter.

„Das wird aber auch Zeit! Du warst wirklich schon mal pünktlicher, Ben." Ihr Blick ruhte demonstrativ auf der Uhr statt auf mir.

„Tut mir leid, dass der Bus eine Verspätung hatte?" Ich sagte es mehr als Frage. Voller Vorsicht, versteht sich. In diesem nervösen Zustand durfte man Mums Nerven nicht noch mehr strapazieren.

„Gut, setz dich." Endlich sah sie mich an und ein kleines Lächeln huschte auf ihre Lippen. „Schön, dass du mal wieder da bist. Es ist nur..."

„Die Inspiration?" Ich verkniff mir den Ausdruck „Muse", weil ich wusste, dass meine Mutter dieses Wort hasste.

„Genau. Inspiration."

Mum war Künstlerin und soweit ich das neulich am Telefon verstanden hatte, versuchte sie sich gerade an Bildhauerei. Aber seit ein paar Tagen ging einfach nichts mehr voran – allerdings wies ihr jetziger Zustand darauf hin, dass sie einen Einfall gehabt hatte, den sie meinetwegen noch nicht umgesetzt hatte. Kein Wunder, dass sie gestresst war. Sie wollte so schnell wie möglich zurück in ihr Atelier und am besten die ganze Nacht lang durcharbeiten. Ihr heimgekehrter Sohn – ich – war verhältnismäßig keine große Sache.

„Fiona, komm runter! Ben ist da", rief sie meiner Schwester in den oberen Stock zu.

Wenig später hörte man ihre leisen Schritte auf der Treppe. „Hey, kleiner Bruder", sagte sie und wuschelte mir durchs Haar. „Uhhhhh. Es gibt noch was von der Erdbeercreme?" Und schon war ich vergessen.

Wie schön es zuhause doch sein konnte.

Aber die fantastische Torte und eine große Tasse Kaffee ließen mich über die äußerst nette Begrüßung hinwegkommen. Fiona erzählte währenddessen von dem Konzert, auf dem sie vor zwei Wochen war. Zu fragen, ob es ihr gefallen hatte, war gar nicht nötig. Ihre Augen sprachen Bände. „Als sie dann ‚For Fiona' gespielt haben, hab ich absolut alles andere vergessen. ‚No Use For A Name' ist die beste Band der Welt!", schwärmte sie weiter.

Pistazieneis zum FrühstückWhere stories live. Discover now