Kapitel 1

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Seit ungefähr fünf Wochen spukte sie in meinem Kopf herum.

Je länger ich über meine Faszination nachdachte, desto weniger schien ich sie zu verstehen. Ich kannte dieses Mädchen nicht. Alles, was ich wusste, war, wie sie aussah, wie ihre Stimme klang und, dass sie Pistazieneis vergötterte.

Aber sie hatte irgendetwas an sich, das jeden Raum zum Strahlen bringen konnte. Ihr Lächeln ließ einen die Zeit vergessen und ihre Augen konnten sich locker mit den sieben Weltwundern messen, so tief schien ihr blau zu sein.

Solche Gedanken schossen mir jeden Tag durch den Kopf und ich ertappte mich bei meiner Arbeit in dem kleinen Eisladen immer wieder dabei, wie ich auf sie wartete. Was mir irgendwie auf die Nerven ging. Dabei konnte ich nicht einmal wirklich sagen, wieso - bei meinem besten Freund, Mike, war es keine Überraschung, dass er von meinen ewigen Vorträgen über sie genervt war. Aber ohne ihn wäre es letztendlich wahrscheinlich nie so gekommen, wie es kommen musste.

„Und? Wie geht's deinem Pistazienmädchen? War sie heute wieder da?", erkundigte er sich an diesem Freitagabend, als wir in unserer Lieblingsbar saßen und an den Bieren vor uns nippten.

„Ja. An jedem Tag, an dem ich diese Woche die Vormittagsschicht hatte. Ich verstehe nicht, wie sie jeden Morgen Eis essen und trotzdem so schlank sein kann...", murmelte ich gedankenverloren. „Und jeden Tag bestellt sie Pistazie - wie kann einem davon auf Dauer nicht übel werden?"

Mike schnaubte amüsiert. „Wieso fragst du sie nicht selbst? Komm schon, Mann. Du hast jetzt eine Ewigkeit gewartet, ohne sie richtig anzusprechen. Und obwohl du nicht mal weißt, wie sie heißt, bist du schon total verrückt nach dem kleinen Biest. Wie lang soll das noch so weitergehen?"

Ich war nicht der Beziehungstyp - Mike wusste das fast so gut wie ich selbst. Aber was sie anging... Ich konnte wirklich nicht sagen, woran es lag, aber sie war einfach... unglaublich. Unwirklich. Wie ein Wesen von einer anderen Welt. Im positiven Sinn versteht sich.

„Ich bin nicht verrückt nach ihr", bestritt ich die Worte meines Freundes dennoch. „Und sie ist kein Biest."

Er zog nur grinsend seine Augenbrauen hoch. „Mach dir nichts vor, Ben. Ich hab dich nicht mehr so erlebt seit... nun ja, eigentlich hab ich dich noch nie so erlebt."

Darauf konnte ich nichts erwidern. Mike und ich waren seit der sechsten Klasse befreundet, also sagte das so gut wie alles. Ich hatte zwar zwei, drei etwas länger anhaltende Beziehungen hinter mir, aber eigentlich konnte man diese kaum als Beziehungen bezeichnen. Mir hatten diese Mädchen damals zwar etwas bedeutet, aber ich sprach nie viel über sie. Es waren eher einseitige Dinge, die vermutlich endeten, weil ich teilweise recht... uninteressiert war. Anders ausgedrückt: Ich war manchmal ein selbstbezogenes Arschloch, das sich zu wenig Zeit für Beziehungen nahm. Da diverse Mädchen auf meiner Prioritätenliste nicht so weit oben gestanden hatten wie sie es vermutlich tun hätten sollen, war die längste Beziehung, die ich bisher gehabt hatte, nach vier Monaten vorüber gewesen.

„Ich bin gleich wieder da, dann können wir auch nach Hause gehen. Die andern haben vorgeschlagen, morgen endlich mit diesem Gruppenprojekt für Gestaltungslehre zu beginnen, wäre also gut, wenn ich demnächst ins Bett komme", sagte ich und machte mich auf den Weg zu den Toiletten.

Mike nickte und leerte gedankenverloren den Rest seines Guinness. Wir teilten uns eine Wohnung, die nur zwei Straßen von der Bar entfernt lag.

Als ich wiederkam, sah ich Mike mit einer grinsenden Blondine quatschen. Daneben stand ihre Freundin, die sich allerdings nicht am Gespräch zu beteiligen schien. Ich wusste, wo das hier enden würde, wenn es nach Mike ging und wurde irgendwie wütend. Obwohl Carina, meine Arbeitskollegin, und er nicht richtig zusammen waren, war klar, dass sie nicht weit davon entfernt waren, eine Beziehung zu führen, die Mike wirklich gut tun würde. Wenn er sich das jetzt vermasselte, wäre er letztendlich nur sauer auf sich selbst. Ich musste irgendetwas unternehmen. Natürlich hätte es einen Haufen Mittel und Wege gegeben, zu verhindern, dass mein bester Freund seine Fast-Freundin betrog, aber nach ein paar Bieren an diesem Abend hatte mein Gehirn einen anderen Einfall.

Ich räusperte mich, strich mein Hemd glatt und ging lächelnd zu der kleinen Gruppe hin. „Oh, Schatz! Hast du wieder mal ein paar nette Damen kennengelernt?", säuselte ich in viel zu hoher Tonlage und legte einen Arm um Mikes Taille. Eine Aktion, die mir im nüchternen Zustand definitiv nicht so selbstverständlich gelungen wäre.

Die Blondine und ihr Anhängsel starrten mich ein paar Sekunden lang bloß verwirrt an. Dann war es, als hätte ich einen Schalter umgelegt und sie schienen zu begreifen. Wenn so ein gutaussehender Typ wie Mike keine Freundin hatte, lag es natürlich daran, dass er schwul war! Das erklärte alles!

„Willst du uns nicht einander vorstellen, Michael?", fragte ich unschuldig. Ich konnte mir meinen Lachanfall nur sehr schwer verkneifen, aber anscheinend spielte ich meine Rolle noch gut genug, um diese Mädchen zu überzeugen. Mike durchschaute mich natürlich sofort und wusste auch, dass ich Carina zuliebe handelte. Er seufzte leise, aber die Freude wich kaum aus seinem Gesicht. „Klar, entschuldige... Schatz. Das sind Rebecca und Jasmine. Ladies, das ist Ben. Mein..."

„Freund", fiel ich ihm ins Wort.

Auch wenn Mike mich gerade am liebsten erwürgt hätte, ließ er es sich nicht anmerken. Vielleicht wusste er auch, dass ich das im Großen und Ganzen nur zu seinem Besten tat.

Die beiden weiblichen Wesen warfen einander einen vielsagenden Blick zu. „Rebecca...", begann die Blonde. „Hast du nicht gesagt Angie ist auch hier? Vielleicht finden wir sie ja auf der Tanzfläche... Wir sollten sie suchen gehen, sonst ist sie wieder sauer, wenn sie herausfindet, dass wir auch hier sind. Es war... wirklich schön euch beide kennenzulernen."

Um dem Ganzen noch eins draufzusetzen, verabschiedete ich mich von ihnen mit diesen albernen Küsschen auf die Wange und sah Mike danach so verliebt an, wie nur möglich. Als sie weg waren und ich mich von meinem besten Freund gelöst hatte, verfinsterte sich seine Miene.

„Für diesen Scheiß könnte ich dich umbringen, Mann...", murrte er.

„Ach komm schon. Was ist mit Carina? Ist sie dir jetzt egal, oder was?" Ich zog herausfordernd meine Augenbrauen hoch.

„Jaja, tu nur so als hättest du mir gerade einen Gefallen getan."

„Hab ich auch. Ihr beide solltet das zwischen euch endlich einmal in den Griff kriegen."

„Wenn das so ist... dann tu mir bitte noch einen Gefallen und rede endlich mit deinem Mädchen! Oder willst du, dass ich die Schwulen-Nummer nächstes Mal abziehe, wenn sie da ist?" Jetzt grinste Mike und mir war klar, dass er nicht wirklich sauer auf mich sein konnte. Aber genauso wusste ich, dass er seine Drohung auch in die Tat umsetzen würde.

„Tu nicht so, als hättest du es nicht genossen... Schatz." Ich grinste zurück.

„Aber ernsthaft, Mann... Bist du sicher, dass du hetero bist? So wie du deinen Arm um mich gelegt hast..."

„Halt die Klappe, Mike", lachte ich bloß. „Und lass uns endlich nach Hause gehen."

Wir schlenderten durch die Stadt. Die Dunkelheit der Nacht war wie eine Decke, die sich über die Erdkugel gelegt hatte und nur vereinzelte Straßenlaternen schafften es, sie zu durchbrechen. Obwohl es erst kurz nach ein Uhr morgens war, verhielt sich alles so ruhig, dass man fast an den Weltfrieden glauben hätte können. Wenn nicht plötzlich mein bester Freund und Mitbewohner die Stille beendet hätte.

„Versprich es mir, Ben. Bitte, versprich mir, dass du endlich mit ihr redest."

„Ich-", weiter kam ich nicht, denn er schnitt mir das Wort ab.

„Kein aber. Du versprichst es mir jetzt. Oder ich werde auf ewig denken, dass du doch vom andern Ufer bist und mir Sorgen machen, dass du auf mich stehen könntest."

Ich lachte kurz auf, aber Mike blieb ernst und starrte mich abwartend an. „Alles klar. Ich verspreche es. Ich werde das Pistazienmädchen für mich gewinnen."

Als ich ihr später von diesem Gespräch erzählte, verschüttete sie vor lauter Lachen beinahe ihr Getränk. Bevor sie zugab, dass ich wirklich irgendwie so einen kleinen gewissen „Touch" hatte, der mich glaubwürdig wirken ließ.

Ja, der Grund, wieso ich sie kennenlernte, war mehr oder weniger, dass ich an diesem Abend so getan hatte, als wäre ich schwul. Lustigerweise sollte es nicht das letzte Mal gewesen sein.

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So. Einmal ein kleiner Einblick in Bens Welt... was sind so eure ersten Eindrücke? Eure Meinungen zu Mike? :)

~KnownAsTheUnknown

Pistazieneis zum FrühstückWhere stories live. Discover now