Kapitel 31

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Abgesehen von diesem nervenaufreibenden Gespräch über den Bruder meines Vaters verlief der Nachmittag ruhiger. So gut es ging, verdrängte ich alle Gedanken daran, dass Dad mir so viel verschwiegen hatte und ich Ally nicht durchschaute. Wollte ich mir selbst nicht eingestehen, dass etwas nicht stimmte? Dass sie Probleme von mir fernhielt?

Hauptsächlich nagten Sorgen an mir. Sorgen, weil Ally sich mir nicht anvertraute – doch ich wollte jetzt kein Theater veranstalten, sondern den Tag genießen.

Ich zeigte Ally am selben Tag den Rest des Hauses und wir spazierten eine Weile durch Seening, weil so schönes Wetter war. Bald gab es auch schon Abendessen und danach verkrochen wir uns in mein Zimmer und saßen nun mit vollen Bäuchen auf meinem Bett.

Meine Gedanken kreisten wieder um das, was Dad gesagt hatte, und ich spürte ein unangenehmes Stechen in der Brust, wenn ich nur daran dachte, wie seltsam das war. Seltsam, traurig und beängstigend.

„Würdest du mir mehr über deine Kindheit erzählen?", bat ich Ally, als ich es nicht mehr aushielt. Eine unbeschreibliche Angst, jetzt weggestoßen zu werden, machte sich in mir breit. Was wenn sie meine Frage nur wieder aufwühlen und traurig machen würde?

Ich kannte Ally. Ich mochte Ally. Sehr. Aber ich hatte derweil nur die groben Umrisse ihrer Vergangenheit gesehen. Bis heute war mir das nicht so wichtig gewesen, immerhin zählte das Hier und Jetzt. Aber ich hatte plötzlich das Gefühl, so viel mehr wissen zu müssen. Als würde sich ihre Vergangenheit sonst zwischen uns drängen und eine Schlucht im Boden aufreißen.

Sie starrte auf die gegenüberliegende Wand, die voller Fotos war. Hatte sie meine Frage überhaupt gehört? Ein tiefer, hörbarer Atemzug, voller aufgestauter Gefühle, breitete sich im Raum aus und drückte mit einem unsichtbaren Gewicht meinen Körper hinunter.

„Ich hab immer versucht, es ihnen recht zu machen. Es schien immer einen Weg zu geben, einen richtigen Weg, den ich gehen musste. Deswegen hab ich Ballettstunden genommen, bis die Lehrerin irgendwann meinte, ich sehe nicht aus, als würde mich das glücklich machen. Sie hat meine Eltern am Ende davon überzeugt, dass es mir keinen Spaß macht", die Worte sprudelten aus ihr heraus, als wollte sie sie ganz schnell loswerden. Doch hier verstummte sie, als wäre sie erschrocken über ihre eigene Offenheit.

„Red weiter", wies ich sie vorsichtig an.

„Ich hab Klavierunterricht bekommen, bei einem Lehrer, der mich gehasst hat und vermutlich wollte, dass ich mir die Finger blutig spiele. Ich war im Schwimmkurs von Bradbury, bei den Pfadfindern und in mehreren Tanzkursen." Sie rückte ein paar Zentimeter näher zur Bettkante. Räusperte sich. Ihre Stimme klang mittlerweile kräftiger, aber irgendwie... bitter. „Nichts davon hat mir wirklich gefallen... Okay, ja, es gab lustige Momente und ich hab dadurch einige Freunde gefunden. Aber ich hab bei all dem nur mitgemacht, weil meine Eltern es so wollten. Für sie hat das wohl irgendwie dazugehört. Dabei war nie wichtig, was ich machen wollte. Meine Hauptaufgabe war, das hübsche, schlaue Töchterchen zu sein, dass man stolz all seinen Arzt- und Immobilienfreunden vorführen kann."

Ich wollte sie eigentlich noch weiter sprechen lassen, doch als nichts mehr kam, fragte ich: „Deswegen hast du dich irgendwann durchgesetzt und studierst Literatur?"

„Durchsetzen ist relativ." Sie öffnete die Augen, als wäre sie jetzt erst richtig wach geworden, und sah mich an. „Lass uns nicht mehr darüber reden, okay? Nicht jetzt. Nicht heute."

Auf meiner Stirn bildeten sich sorgenvolle Falten. Ich sollte noch irgendwas sagen, ihr Mut zusprechen. Aber mein Kopf war wie leergefegt.

Besonders als sie mich küsste und mit sich auf die schmale Matratze meines Bettes zog. Kurz löste sie sich von mir, zerrte an meinem T-Shirt und grinste mich fast schüchtern an, während ihr Gesicht glühte.

Pistazieneis zum FrühstückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt