Kapitel 6

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„Dein Humor ist in etwa so wie ein Blinder, der versucht, zu jonglieren. Wenn jemand lacht, dann entweder aus Höflichkeit oder weil du bescheuert dabei aussiehst, wenn du versuchst irgendwelche Bälle zu fangen. Ab und zu schaffst du es dann aber doch, so eine Kugel zu erwischen."

„Autsch... Hättest du mir nicht schonender beibringen können, dass ich nicht lustig bin?" Gespielt verletzt verzerrte Ben sein Gesicht.

„Nein", erwiderte Nicky schulterzuckend.

Obwohl sie ihn mit ihrer Art teilweise an Ally erinnerte, hätten die beiden optisch kaum unterschiedlicher sein können. Im Gegensatz zu Allys dunkelblonden Wellen hatte Nicky ihre schulterlangen Haare in einem blassen Violett-Ton gefärbt. Zudem trug sie ein Lippenpiercing und ihre Augen waren so dunkel geschminkt, dass sie beinahe dämonisch wirkten.

Nicky schien gern alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In Gedanken ordnete Ben sie einer Eissorte zu, die sie annähernd beschrieb.

Ausgefallen, süß und selbstbewusst. Maracuja-Eis vielleicht.

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„Nachdem Nièpce mit dem Heliografie-Verfahren den Grundstein für die Fotografie gelegt hatte, wurde 1837 von Daguerre eine neue Methode entwickelt, bei der er mit Quecksilber-Dämpfen arbeitete. Wobei die anschließende Fixierung durch eine heiße Kochsalzlösung oder eine normal temperierte Natriumthiosulfatlösung durchgeführt wurde."

Mein Fotografie-Professor schwafelte nun schon seit locker einer dreiviertel Stunde, ohne auch nur eine einzige Pause zu machen, um mal Luft zu holen. Ich fragte mich, ob ihm tatsächlich jemand zuhörte - beziehungsweise sich all das irgendwie merken konnte.

Egal, was ich tat, ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Andauernd knüpfte mein Gehirn irgendwelche Verbindungen, die mich zu einem ganz bestimmten Thema führten. Ally.

„Daraus entstand dann die sogenannte Daguerreotypie", plapperte der Mann vor uns immer noch munter weiter. „Wer weiß, vielleicht entwickeln Sie eines Tages Ihre eigene Methode und dürfen Ihren Namen an diese weitergeben."

In meinen Phantasien hatte ich schon einen Berg an Auszeichnungen für mein neues Fotografie-Verfahren erhalten, der den Mount Everest wie eine Erbse aussehen ließ. Und natürlich würde ich meine bahnbrechende Entdeckung Dyerotypie taufen - nach Allison Dyer.

Allerdings würde ihr Nachname irgendwann nicht mehr Dyer lauten...

Ich musste sie aus meinen Gedanken verbannen. Zumindest für die nächsten paar Stunden. So konnte das doch nicht weitergehen! Gestern hatten wir uns zum ersten Mal abseits von meiner Arbeit getroffen und sie ging mir bereits jetzt einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich war doch verrückt!

Nach ihr.

Zerstreut griff ich nach dem Pappbecher, der auf dem kleinen Tischchen vor mir stand, und nahm einen großen Schluck Kaffee.

Reiß dich verdammt noch mal zusammen, Ben!

Und dann widmete ich meine Aufmerksamkeit unserem geschichtsfanatischen Professor Nicolson. So gut es mir möglich war zumindest.

Mittwoch war mein Burnout-Tag. Der Zeitpunkt der Woche, an dem ich mich einfach nur noch in meinem Bett verkriechen und die restlichen Tage bis zum Wochenende hin verschlafen wollte. Trotzdem taumelte ich von der Fotografie-Vorlesung weiter zu Medientheorie und eilte nach dem Mittagessen zum Nice Ice, um als menschgewordene Marionette die Kunden zu bedienen. Ferngesteuert - so hätte man es wohl auch nennen können.

Hirnlos, aber mit einem überfreundlichen Lächeln erledigte ich meinen Job. Wünsche entgegen nehmen, entsprechendes Eis in entsprechende Tüten füllen, Preis nennen, Geld kassieren. Es war bestimmt nicht der anspruchsvollste Beruf - vor allem, da er so routiniert war - dennoch wollte ich nach den dreieinhalb Stunden, die ich hier nun verbracht hatte, nur noch in mein Bett. Die übertriebene Mai-Hitze machte mir das Leben auch nicht einfacher. Im Gegenteil: Gerade an so strahlend sonnigen Tagen wie heute schien die Schlange an Eishungrigen kein Ende zu nehmen.

„Carina? Ich geh dann", murrte ich schließlich, als meine Schicht zu Ende war.

„Alles klar, du Faulpelz", bekam ich als Antwort meiner Kollegin. „Ruh dich lieber aus - so wie du aussiehst, hast du das heute echt nötig."

„Charmant wie immer."

Ich fühlte mich definitiv auch so, als hätte ich es nötig, aber mein Bett musste wohl leider noch einige Zeit auf mich warten. Ich rieb mir mit den Händen über die angestrengten Augen. Heute musste das Projekt für Gestaltungslehre fertig werden. Also bekam ich noch Besuch von ein paar Studienkollegen. Wohoo.

Mit entsprechend wenig Motivation öffnete ich die Tür zu Mikes und meiner Wohnung, um festzustellen, wie viel Arbeit an Aufräumen noch auf mich wartete. Wir waren beide nicht die ordentlichsten Menschen, was man schon am Eingang bemerkte. Man musste nur einen Blick auf den Fußboden werfen, wo unsere Schuhe verstreut herum lagen, als hätte ein Tsunami gewütet. Und das war noch harmlos im Vergleich zum Rest der Wohnung.

Seufzend begann ich, das größte Chaos zu entschärfen. Noch anderthalb Stunden. Anderthalb Stunden, in denen ich auch noch Einkaufen gehen sollte, wie mir gerade bewusst wurde. Wenn man Gäste hatte, sollte man ihnen immerhin irgendetwas anbieten können - das hatten mir meine Eltern immer wieder eingebläut. Und auch wenn wir hauptsächlich arbeiten sollten, waren Snacks noch nie verkehrt gewesen. Für Pete - der allgemein als Faulpelz schlechthin galt - war die Aussicht auf gratis Essen vielleicht sogar der einzige Grund, weshalb er überhaupt kommen würde.

Als ich zufrieden mit dem bisschen Ordnung war, das ich in Flur, Küche und Wohnzimmer hergestellt hatte, schnappte ich mein Portemonnaie und meinen Schlüssel und eilte hinaus. Ich war heute so gestresst und mit Gedanken immer noch wo anders, dass ich relativ wahllos Zeug in meinen Einkaufswagen füllte. Bis ich irgendwann innehielt, als ich nach einer Klobürste griff. Ich schüttelte den Kopf über meine eigene Dummheit und ließ mir ab da etwas mehr Zeit in dem Geschäft.

Mit einer schweren Tasche bepackt verließ ich endlich diese Hölle und beeilte mich, rechtzeitig zum nächsten Alptraum zu kommen. Meine Studienkollegen waren ja recht nett - von Pete mal abgesehen, der mir oft einfach nur auf die Nerven ging - und das Projekt war eigentlich auch nicht so uninteressant. Aber ich hatte heute trotzdem absolut keine Lust darauf, während der nächsten Stunden irgendwelche Werbeplakate zu analysieren.

Immer noch mit dem Kopf in den Wolken, bog ich um eine Straßenecke und stieß fast mit jemandem zusammen.

Ich hielt erschrocken die Luft an, als ich plötzlich Ally vor mir stehen sah. Im Gegensatz zu mir wirkte sie kaum verwundert und ließ nur ein leises „Hi, Ben" hören.

Vorsichtig, als könnte meine Stimme allein sie verschwinden lassen, fragte ich: „Ally? Bist du... Bist du echt?"

Sie lachte laut auf. „Ich hoffe doch", schnieft sie dann mit einem bitteren Unterton. Und erst jetzt sah ich sie richtig.

Weder ihre hübschen dunkelblonden Haare, noch das kleine Lächeln auf ihren Lippen konnten mich täuschen. Allys Wangen waren gerötet, die Augen glitzerten verdächtig.

Sie wirkte vollkommen hilflos.

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Ach Ben, du kleiner, liebeskranker Trottel. JETZT TU DOCH WAS! xD

Ja, ich schreie meine eigenen Charaktere an.

Nein, ich bin nicht verrückt.

Okay, vielleicht doch ein klein wenig.

Das Mädchen am Coverbild soll übrigens Nicky darstellen - die Ironie, keine richtige Hauptperson am Cover zu haben, gefällt mir irgendwie.

Nur noch eine letzte Anmerkung am Rande: Ich reime mir das System für Bens Studium recht... frei zusammen. Einige Infos (hauptsächlich die Fächer aus dem Stundenplan) sind zwar aus dem Internet, wobei ich mich ein bisschen an der Universität für angewandte Kunst in Wien orientiere, aber für alles reicht eine Internet-Recherche eben doch nicht aus. Wie realistisch meine Vorstellungen von dem Studium sind, kann ich also nicht sagen - aber hey, es ist eine Geschichte auf Wattpad xD Ich denke, man kann mir verzeihen, dass ich mir gewisse Dinge so zurechtbiege, wie ich sie brauche. (Und für die Fotografie-Infos am Anfang des Kapitels danke ich Wikipedia)

~KnownAsTheUnknown

Pistazieneis zum FrühstückWhere stories live. Discover now