Kapitel 2

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Die Tatsache, dass Ben es geschafft hatte, auch Nicky mit dieser Geschichte zum Lachen zu bringen, erfüllte ihn irgendwie mit Stolz.

„Ich wäre echt gern dabei gewesen, als du so getan hast als wärst du schwul", gestand sie.

„Darf ich das als Kompliment nehmen?" Er bemerkte, wie er immer lockerer wurde, je länger er sich mit der Barkeeperin unterhielt. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee gewesen, ihr seine Geschichte zu erzählen. Vielleicht.

„Von mir aus. Was ist dann passiert?", forderte sie ihn schließlich auf, weiterzureden, während sie ein paar Biergläser abtrocknete.

-

Am folgenden Montag ging ich, obwohl ich nicht arbeiten musste, zu dem kleinen Geschäft, das sich zwischen einem Musikladen und einem Kostümverleih befand. Wer auch immer auf den Namen Nice Ice gekommen war, war in meinen Augen immer noch ein ziemlicher Idiot - trotzdem liebte ich meinen Job hier. Neben dem Studium war es mehr als praktisch, sich etwas dazuzuverdienen und glücklicherweise durfte ich meine Arbeitszeiten selbst mit meinen Kollegen einteilen, sodass genug Zeit blieb, um an der Uni die Vorlesungen und Seminare zu besuchen, die ich für mein Fotografie-Studium benötigte.

„Hi, ich arbeite normalerweise hier. Ich hab dich schon öfter gesehen und irgendwie kann ich dich nicht vergessen..."

„Hallo, darf ich fragen, wie du heißt?"

„Hey, willst du mal mit mir einen Kaffee trinken gehen?"

„Hi, ich bin Ben. Wie geht's?"

Mein Kopf begann schon während der Fahrt mit der U-Bahn lauter derartige Gespräche durchzugehen. Sie alle waren grauenhaft, aber bei weitem nicht so grauenhaft, wie ich mich fühlte. Heute Morgen hatte ich es kaum geschafft, mein Frühstück hinunterzuwürgen und dass es sich noch immer in meinem Magen befand, grenzte an ein Wunder. Ich stieg mit etwas wackeligen Beinen aus dem Wagon und stolperte irgendwie die Stufen hinauf, die zur Fußgängerzone führten. Vielleicht war sie heute gar nicht da. Ich wusste nicht, ob ich darüber erleichtert oder enttäuscht wäre. Vermutlich beides.

Eigentlich konnte ich immer noch kneifen. Mir irgendeine Lüge zusammenreimen, die ich Mike auftischen würde, und sie trotzdem einfach nicht ansprechen. Aber was hätte das für einen Sinn? Ich wäre genau null vorangekommen und früher oder später würde ich ihr wieder beim Arbeiten begegnen. Also gut, jetzt oder nie.

Ich blieb ein paar Meter vom Nice Ice entfernt stehen und zückte mein Handy. Neun Uhr Siebenunddreißig. Mir war schon immer schleierhaft, wieso wir ab neun Uhr morgens Eis verkauften, aber es gab wohl Menschen, für die Eiscreme so was wie Frühstück war. Sie zählte auch dazu.

Nach zwanzig Minuten, in denen ich nur da stand und so tat, als wäre etwas äußerst wichtiges auf meinem Handy zu sehen - in Wirklichkeit war es bloß die übliche, langweilige Facebook-Startseite, durch die ich mich durchkämpfte - kam ich mir nur noch bescheuert vor. Wie lange wollte ich eigentlich hier stehen bleiben? Ich konnte nicht meinen ganzen Tag hier verbringen, in der Hoffnung, dass sie möglicherweise auftauchen würde. Spätestens um halb zwölf müsste ich sowieso wieder an die Universität - und gerade fiel mir ein, dass ich die Aufgaben für meine Übung in Gestaltungslehre noch nicht erledigt hatte. Auch das noch.

Ich wollte mich gerade umdrehen und völlig entmutigt zur U-Bahn zurückspazieren, als ich ein dunkelblondes Mädchen auf mich zukommen sah. Meine Brust zog sich zusammen und ich fühlte mich, als wäre ich einem Gespenst begegnet. Natürlich ging sie nicht auf mich zu, sondern machte bei dem kleinen Eisgeschäft wenige Meter von mir entfernt halt. Ein ähnliches Gefühl musste es sein, einen berühmten Sänger oder Schauspieler mal in der Realität zu treffen, anstatt diese Person immer nur durch Bildschirme zu sehen - oder in meinem Fall getrennt durch einen Verkaufstresen. Allein ihr Anblick wirkte so... surreal.

Pistazieneis zum FrühstückWhere stories live. Discover now