30. Ein kleines Mädchen und vier Ninja

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Wir laufen schon seit einiger Zeit durch die verlassenen Gänge der Schule. Die anderen Schüler sind wohl geflohen, wir haben das Gebäude für uns.

Das ist mir auch ganz recht so, denn ich habe wenig Lust, einen meiner alten Klassenkollegen zu sehen. Sie haben mich nie gemocht und zu sehen, dass ich jetzt der für Gerechtigkeit kämpfende Grüne Ninja bin wäre nicht sehr gut für meinen Ruf hier.

Ich seufze und erinnere mich an Zeiten, in denen ich keine Freunde hatte, die mit mir durch dick und dünn gehen und in denen ich meine Freizeit damit verbracht habe, entweder staubige Bücher in der Schulbibliothek zu lesen oder das unterirdische Labyrinth unter dem Internat zu erkunden. Als ich die Ninja damals aus dem Kellerverließ, in das sie gesperrt wurden, nachdem man sie erwischt hatte, befreit habe, habe ich genau diese Gänge benutzt, um uns alle zurück an die Oberfläche zu führen.

Daraufhin fragten sie mich, ob ich nicht mit ihnen kommen wollte. Schließlich sei ihr Sensei, Sensei Wu, mein Onkel und ich hätte gutes Recht, bei ihm statt im Internat zu leben.

Aber ich lehnte ab. Ich konnte mir damals noch nicht vorstellen, dass irgendjemand mich freiwillig bei sich behalten wollte und dachte, ich täte ihnen einen Gefallen, wenn ich ihr Angebot ausschlug.

Sie schienen alle traurig zu sein aber akzeptierten meine Entscheidung. Doch als kleine Gegenleistung ließ Kai es sich nicht nehmen, mir den Notfallschalter, den seine Schwester eigentlich für ihn gebaut hatte, zu schenken. Der Schalter sendet, wenn man ihn umlegt, ein Funksignal aus, das die Ninja alarmiert. Ich sollte ihn umlegen, wenn ich in ernsthaften Schwierigkeiten – also Schwierigkeiten, aus denen ich allein nicht wieder herauskam – steckte und sie würden mir zur Hilfe kommen.

Einige Wochen ging alles wie immer zu, aber eines Tages wurde ich ins Büro des Direktors gerufen: Ich hatte nämlich, an dem Tag als ich die Ninja befreit hatte, noch etwas anderes getan: Sie hatten mich gebeten, ihnen aus dem Safe des Direktors die Schriftrolle, derentwegen sie eigentlich hergekommen waren, zu besorgen. Und das hatte ich getan – weil ich den Code kannte und einen Tunnel wusste, der direkt ins Büro führte.

Alles ging gut und ich konnte den Jungs die Schriftrolle überreichen – auf der nichts Geringeres geschrieben stand, als die Prophezeiung des Grünen Ninja – aber ich hatte eins nicht bedacht: Die Überwachungskameras.

Es hatte eine Weile gedauert, bis sie dazu gekommen waren, das Material, das an jenem Tag aufgezeichnet worden war, zu sichtigen, aber sie hatten es getan. Und ich war fällig.

Der Direktor verwies mich augenblicklich der Schule und ließ mich in meinem Zimmer unter Hausarrest stellen, bis mein Vater hier eingetroffen sei. Ich wusste keinen Weg aus diesem Schlamassel hinaus, bis mir der Notfallschalter einfiel.

Eine Stunde später traf mein Vater ein – und zur selben Zeit auch die Ninja, die mich in einer spektakulären Rettungsaktion auf ihren neu erworbenen Flugsegler befördern und fliehen konnten.

Seit dem lebe ich also bei ihnen und ich bereue es nicht, sie gerettet zu haben. Mein Leben war fad und trostlos hier, sie haben mich aus dieser Einöde befreit und zu etwas besonderem gemacht, dafür bin ich jeden Tag dankbar.

Deshalb reagiere ich auch so empfindlich darauf, wenn ich merke, dass jemand keine Freunde hat – oder einfach ganz allein ist auf dieser Welt – weil ich genau weiß, wie sich das anfühlt. Ich habe es selbst durchgemacht.


Ich bin so tief in Gedanken versunken, dass ich erst merke, dass wir am Ziel sind, als Jay mich am Arm packt und gewaltsam davon abhält, am richtigen Raum vorbeizulaufen.

Als ich in der Bibliothek stehe, weiß ich sofort, wo ich suchen muss. Ich steuere zielstrebig auf eins der hinteren Bücherregale zu und bitte die Jungs, mir zu helfen, eine ganze Reihe Bücher aus dem Regal auf den Boden zu werfen. Sie sind zwar etwas überrascht aber packen dann doch mit an.

Hinter der weggeräumten Reihe Bücher entdecken die anderen, weswegen ich hier bin: Eine weitere Reihe Bücher – in der aber viel weniger Exemplare stehen. Dafür sind sie dicker und staubiger und sehen auch um ein paar Jahrhunderte älter aus.

Ich ziehe einen der dicksten Wälzer aus dem Regal und lese den Titel vor: „Enziclopedia de Loci Sanctus"

Jay stöhnt. „Nicht schon wieder Latein! Bin ich der einzige, der davon kein Wort versteht?"

Kai klopft ihm beruhigend auf die Schulter. „Keine Sorge, ich verstehe genauso wenig wie du. Leyla, kannst du das mal für uns normal Sterbliche ohne Lateinkenntnisse in eine verständliche Sprache übersetzen?"

Ich kichere und verdrehe die Augen. „Enziclopedia heißt Enzyklopädie, Locus bedeutet Ort und Sanctus heilig, also Enzyklopädie der Heiligen Orte – wobei heilig eher für mystisch steht. Ich habe das Buch zigmal gelesen und dort irgendwo stand auch etwas von der Fonta Nova Initia."

Die Jungs sehen mir über die Schulter, während ich den Wälzer zu einem der Tische schleppe und aufschlage. Ich suche das Inhaltsverzeichnis ab und werde bald fündig: „Da ist es, Fonta Nova Initia auf Seite 1,302!"

Schnell blättere ich zur eben genannten Seite und wir sehen das Bild einer Quelle und darunter die Überschrift „Locus quo vitium corrigere: De Fonta Nova Initia"

Bevor die Jungs erneut über das lateinische stöhnen können, übersetzte ich von selbst: „Der Ort, um Fehler zu verbessern: Die Quelle des Neuanfangs."

Ich überfliege den darauf folgenden Text, der zum Teil in Latein, zum Teil in alter Sprache geschrieben ist und weiß am Ende alles, was ich wissen muss.

Nur weiß ich nicht, ob das so gut ist.

The Girl who never falls and the Ghost who never feelsWhere stories live. Discover now