10. Die halbe Geschichte

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So vergingen die Tage und ich war glücklicher als ich jemals zuvor gewesen war. Aus Tagen wurden Monate, Jahre.

Ich bemerkte, dass die meisten Dinge mir erstaunlich leicht fielen. Innerhalb von einem Jahr konnte ich Lesen und Schreiben, beherrschte die Grundrechnungsarten und auch in den anderen Fächern Basiskenntnisse.

Auch im Kampftraining war ich begabt. Wu sagte, wenn ich weiter so schnell lernen würde, hätte er bald nichts mehr, das er mir beibringen könne.

Als es mir zum ersten Mal gelang, Spinjitzu zu machen, war ich sieben Jahre alt. Innerhalb der nächsten zwei Jahre schaffte ich es, mein volles Potential zu erreichen.

Danach änderte sich das Training. Sensei Wu führte mich in die fortgeschrittenen Techniken ein und brachte mir bei, wie man ohne groß zu kämpfen seinen Gegner ausschalten kann.

Er lehrte mich uralte Techniken, Formen der Kampfkunst, besondere Fingergriffe die Nerven blockieren und damit den Gegner bewusstlos oder bewegungsunfähig machen.

Auch Elementarkräfte konnte man mir bestimmten Fingergriffen vorübergehend blockieren.

Eines Tages, ich war gerade zehn Jahre alt, wollte Meister Wu mir etwas zeigen, von dem er selbst behauptete, es kaum zu können.

Es war eine Technik, mit der man in der Lage war, seinen Körper vorübergehend zu verlassen und ein Geist werden konnte.

Als mir die Vorstufe, das Betreten der eigenen Fantasie, beim dritten Mal gelang, war er sehr erstaunt. Wu sagte, dass er mich zwar in der Theorie anleiten konnte, aber selbst kaum Erfahrung mit dieser Technik besäße.

Nach zwei Tagen gelang es mir zum ersten Mal, meinen Körper zu verlassen. Von da an konzentrierte Wu das Training auf mentale Dinge wie dies, weil er sah wie leicht mir alles in diesem Bereich fiel.

Bald war es für mich überhaupt kein Problem mehr, meinen Körper zu verlassen. Man konnte den Leuten super Streiche spielen, wenn man ein Geist war.

Ich gewöhnte mich langsam an den körperlosen Zustand und lernte, die Geisterkräfte zu benutzen.

Aber Wu sagte, ich solle möglichst wenig Zeit als Geist verbringen, weil ich sonst vergessen könnte, wie es ist, einen Körper zu haben.

Wiederwillig befolgte ich seinen Rat untertags, aber nachts hielt mich nichts mehr in meinem Körper.

Die Seele, so fand ich heraus, kam prima ohne Schlaf aus also nutzte ich die Nächte um entweder die Stadt zu erkunden, meine Geisterkräfte zu perfektionieren oder die Schriftrollen die in Wus geheimem Keller herumlagen, zu studieren.

Auf diese Weise lernte ich sehr viel über die Vergangenheit Ninjagos und in diesen Schriftrollen las ich auch zum ersten Mal den Namen Verfluchte Welt.

Dort stand eine Menge über diese Paralleldimension, die als ewiges Gefängnis für die Geister der schlimmsten Verbrecher Ninjagos dient.

So schritten die Tage voran, das Training war hart, sogar für mich. Immer öfter gab es Dinge, die mir einfach nicht gelingen wollten.

Der einzige Grund, warum ich mich immer wieder aufrappelte und mir sagte, ich müsste weitermachen, waren Sensei Wus Worte, die er damals gesagt hatte, etwa ein halbes Jahr nachdem ich bei ihm eingezogen war.

Ich war dazu bestimmt, einmal der Grüne Ninja zu werden.

Allein aus diesem Grund hatte ich das Training durchgehalten, all die Stunden in denen ich zum hundertsten Mal an einer Übung scheiterte, aufstand und es noch einmal versuchte. Und wieder scheiterte. So lange, bis ich es endlich schaffte. Und dann kam die nächste Übung, an der ich scheitern konnte.

An meinem elften Geburtstag schließlich, meinte Sensei Wu, dass es kaum noch etwas gäbe, das er mir beibringen könnte. Also wollte er mir offiziell den Titel des Grünen Ninja verleihen.

Der Tag sollte der schönste meines Lebens werden. Die ganzen sechs Jahre, in denen ich Sensei Wus Schüler war, hatte ich auf diesen Augenblick gewartet.

Und dann passierte das, womit weder ich noch Sensei Wu gerechnet hatten: Die Goldenen Waffen reagierten nicht.

Zuerst redete ich mir ein, es sei irgendwie ein Missverständnis, aber der Sensei teilte mir am nächsten Morgen mit, dass das unmöglich sei.

Die Goldenen Waffen irrten sich nicht.

Ich hatte das Gefühl, dass all das harte Training, die Mühen, die Verletzungen, der Ehrgeiz um sonst gewesen wäre.

Mein Ziel, mein großes Ziel einmal der Held und Retter Ninjagos zu werden, war nur ein großes Missverständnis gewesen.

Ich war nie der Grüne Ninja gewesen und würde es auch nie sein.

Eine Nacht blieb ich noch im Kloster, dann, am nächsten Morgen, packte ich meine Sachen und ging.

„Ich kann dir nicht verzeihen, was du mir angetan hast und ich kann auch nicht bleiben", sagte ich.

„Du kannst mir nichts mehr beibringen, das hast du selbst gesagt. Und nach all dem hast du mir auch nichts mehr zu sagen."

Er hat mir nicht widersprochen und auch nicht versucht, mich vom Gehen abzuhalten. Er hat mir nur schweigend hinterhergesehen.


„Das war das letzte Mal, das ich Wu gesehen habe. Bis ich ihm vor einer Woche in deinem Körper entgegengetreten bin."

Ich habe die ganze Zeit, in der Morro erzählt hat, kein einziges Wort gesagt. Obwohl ich zwischendurch eine Million Fragen hätte stellen können: Warum hat Wu dir geheime Techniken beigebrecht und uns nicht? Wurdest du beim heimlichen Lesen der Schriftrollen je erwischt? Wieso hat Wu dir erzählt du seist der Grüne Ninja?

Aber ich habe keine einzige gestellt.

Morro schweigt und ich auch. Ich warte, dass er fortfährt, aber er tut es nicht. Er sieht nur zu Boden.

Irgendwas in mir will ihn umarmen. Aber die Kette hindert mich daran. Das war sicher nicht leicht für ihn.

„Und?", breche ich schließlich das Schweigen, weil ich es nicht mehr aushalte.

Er sieht hoch. „Was und?"

„Na, wie ging es weiter, als du Wu verlassen hattest?", bohre ich nach.

„Dir ist noch nicht langweilig?"

Ich lache. „Nein, ganz im Gegenteil. Ich finde das alles sehr interessant."

Er sieht mich an. „Du bist die erste, der ich das je erzählt habe, Leyla."

„Wirklich?"

„Ja."

Eine Weile schweigen wir, dann frage ich erneut ob er nun weiter erzählt.

„Nein", ist alles was er sagt.

„Aber warum nicht?"

Er seufzt. „Weil du mir nicht glauben würdest."

Ich bin verwirrt. „A-aber ich glaube dir bis jetzt!"

Jetzt lacht er. „Ja, das war auch der harmlose Teil."

Ich schweige. „Ich will es aber wissen."

Nachdenklich sieht er mich an. „Das geht nicht. Denn der einzige, dem du es glauben würdest, wäre dein Vater."

The Girl who never falls and the Ghost who never feelsWhere stories live. Discover now