9. Ich frage, du antwortest

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Ich überlege nicht lange. „Wie kam es, dass du in der verfluchten Welt gelandet bist und wie bist du daraus entkommen?"

Er lächelt kurz. „Das sind zwei Fragen. Und deshalb suche ich mir die einfachere aus. Ich bin entkommen, als ihr das Portal geöffnet habt, um die Geister der Anacondrai zu befreien. Mal im Ernst, WENN ihr schon so ein Portal öffnet, dann solltet ihr wirklich darauf achtgeben, wer alles durch kommt."

Ich schweige. Er hat Recht. Da hätten noch viel schlimmere Wesen entkommen können.

„Okay, jetzt du."

Er überlegt kurz, dann fragt er: „Wo hast du gelebt, bevor du zu den Ninja gekommen bist?"

„Auf dem Internat für Dunkle Künste. Mein Vater hat mich dorthin geschickt, nachdem meine Mutter gestorben ist."

Morro nickt gedankenverloren. Dann sieht er mich an. „Nächste Frage."

Ich überlege, soll ich nochmal die von vorhin stellen? Nein, er hat gesagt die wäre kompliziert. Warum gehe ich nicht stattdessen auf Anfang?

„Wer waren deine Eltern?"

Er senkt den Kopf. „Ich weiß es nicht. Die ersten fünf Jahre meines Lebens habe ich auf der Straße verbracht, bis..."

„Bis was?"

Morro seufzt. „Also schön. Du willst wirklich meine gesamte Lebensgeschichte hören? Gut, ich erzähle sie dir, von Anfang an. Wie gesagt, ich habe auf der Straße gelebt, bis zu jenem Tag, als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe."


Ich versteckte mich hinter einem Marktstand und wartete. Wartete auf einen Kunden mit gut gefüllten Geldbeuteln.

Ich wollte nicht stehlen, aber ich musste. Um zu überleben. Meine Eltern hatten mich ausgesetzt als ich gerade mal ein paar Tage alt war. Eine Bande Straßenkinder hatte mich gefunden und aufgezogen, sie hatten mir alles beigebracht was ich wusste.

Jetzt war ich fünf Jahre alt und groß genug, selbst da raus zu gehen und zu klauen.

Ein Mann blieb am Stand stehen und kaufte Tomaten und Kohl. Ich schlich mich an und schnappte mir seinen Geldbeutel. Dann rannte ich.

Aber der Kerl, der nicht älter als Mitte zwanzig sein mochte hatte mich bemerkt. Er kam mir, wild gestikulierend und schreiend nach.

Ich rannte so schnell ich konnte, aber meine Beine waren viel kürzer als die des Mannes, also erwischte er mich nach einigen Minuten.

Er packte mich am Kragen meines viel zu großen, zerschlissenen Hemdes und entriss mir seinen Geldbeutel.

„Hab ich dich du kleiner Dieb!", rief er.

Ich strampelte und versuchte, mich loszureißen, aber ich kam nicht los. Jetzt ist es aus, dachte ich. Jetzt bringt er mich zur Polizei und die verhaften mich.

Bei dem Gedanken bekam ich panische Angst. In meinen Augen sammelten sich Tränen. „B-bitte bitte bringen Sie mich nicht zur Polizei...", meine Stimme klang dünn und ängstlich. Eine Träne lief mir die Wange hinunter.

Die Gesichtszüge des Mannes glätteten sich etwas. „Wer bist du? Und wo sind deine Eltern?"

Ich spürte, wie sich mehr Tränen in meinen Augen sammelten. „I-ich hab keine Eltern mehr...und ich wollte Sie nicht bestehlen...aber ich hab sonst nichts zu essen..." Ich schluchzte einmal und brach dann endgültig in Tränen aus.

Der Mann setzte mich vorsichtig auf dem Boden ab und ich vergrub das Gesicht in den Händen.

„E-es tut mir leid", schluchzte ich.

Der Mann kniete sich vor mich hin und legte mir eine Hand auf den Kopf. „Ist schon gut, ich bringe dich nicht zur Polizei."

Ich hob den Kopf und sah ihn an. „W-wirklich?"

„Ja. Schließlich kannst du nichts dafür, dass du keine Eltern hast. Mein Name ist Wu. Und wie heißt du?"

Ich sah ihn vorsichtig an. „Ich bin...M-Morro."

Er lächelte. „Freut mich sehr, dich kennen zu lernen, Morro. Weißt du was, du kannst mir als kleine Entschädigung helfen, die Einkäufe den Berg hoch zu tragen. Ich wohne nämlich da oben. Und wenn du willst, lade ich dich danach auf einen Kuchen ein."

Ich sah ihn freudig überrascht an. „Klar! Ich nehme die große Tüte da!" Ich zeigte auf die größte der Einkaufstüten, die er bei sich hatte.

Wu lachte. „Na na, überstürz es nicht. Wie wärs mit dieser hier?" Er reichte mir eine mittelgroße Tüte gefüllt mit allerlei Lebensmitteln.

Ich strahlte. „Klar!"

Wir machten uns auf, den Berg zu erklimmen.

Nachdem wir oben angekommen waren, lud Wu mich tatsächlich auf einen Kuchen ein. Das war das Beste, das ich in meinem Leben je gegessen hatte. Ich lobte den Kuchen überschwänglich.

Wu erzählte mir, er sei ein Spinjitzu-Meister und sein Bruder Garmadon hätte ihn vor einem halben Jahr verlassen. Seit dem wohne er hier ganz allein.

Ich fühlte mich, als wäre ich ihm etwas schuldig. Schließlich hatte er mir so geholfen! Ich beschloss, ihm ein Geheimnis zu erzählen, das nicht einmal die Kinder aus meiner Bande kannten.

Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf die auf dem Tisch brennende Kerze. Sie war etwa zwei Meter von mir entfernt, so groß war der Tisch.

Mit einem Wink meines Fingers pustete ich sie aus.

Wu war sehr beeindruckt und fragte mich, woher ich das konnte und ob ich noch etwas konnte. Ich erzählte ihm, ich hätte das schon immer gekonnt und zeigte ihm noch ein paar andere Kleinigkeiten.

Dann musste ich gehen, aber Wu sagte, ich könne morgen wieder kommen.

Das tat ich auch und als ich ihn am Tag darauf sah, erklärte er mir, ich sei womöglich der Nachkomme eines Elementarmeisters.

Wir probierten einige Dinge aus und am Abend sagte Wu, dass seine Theorie stimmte. Ich war der nächste Meister des Windes.

Aber das war nicht das Beste an diesem Tag. Wu sagte, da sein Bruder fort sei, wäre er bereit, einen Schüler zu unterrichten. Und dieser Schüler könne ich sein.

Ich könne zu ihm in den Tempel ziehen und er würde mich alles über meine Kräfte lehren. Außerdem würde er mir zeigen, wie man kämpft und Spinjitzu erzeugt. Und natürlich auch die grundlegenden Dinge wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Geographie, Geschichte und Physik.

An diesem Abend schlief ich zum ersten Mal in einem richtigen Bett. Und ich war so glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben.

The Girl who never falls and the Ghost who never feelsWhere stories live. Discover now