15. Eine Geste zu viel

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Ich starre meinen Vater noch eine ganze Weile an, nachdem er geendet hat und kann immer noch nicht glauben, was ich da eben gehört habe.

Im Schnelldurchlauf: Morro war Chens Schüler, zusammen mit meinem Vater. Die Information, dass Morro nur böse ist, weil ihn der Schlangenmeister gebissen hat, muss ich erst verdauen.

Aber wenn ich genauer darüber nachdenke, erklärt das einiges. Deshalb ist er so launisch, deshalb behauptet er, keine Wahl zu haben. Deshalb meint er, ich rede Unsinn, wenn ich sage, dass er nur so tut als sei er böse.

Und dann die Geschichte mit seiner Verbannung in die Verfluchte Welt...ich weiß selbst nicht, was ich erwartet habe, vielleicht irgendeine Jugendsünde oder ein Versehen, aber das er komplett unschuldig war...

Mein Herz zieht sich zusammen bei dem Gedanken, dass ein einzelner Mensch so viel Hass und Leid erfahren musste.

Und Morro hatte Recht. Ich weiß jetzt, warum er meinen Vater so sehr hasst. Aber ich kann ihm nicht böse sein, schließlich war das damals die Schuld des Giftes.

Vermutlich kann Morro ihm nicht verzeihen, weil ebenfalls Gift durch seine Adern fließt.

Plötzlich bemerke ich, dass mein Vater mich komisch ansieht. „Leyla, alles in Ordnung? Du bist so blass..."

Ich zucke zusammen. „Äh, ja, mir geht es gut...es ist nur, das ist so schlimm..."

Mein Vater seufzt. „Ich weiß." Dann sieht er kurz zu Morro. „Und du weißt nicht, wie sehr ich das alles bereue. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen."

Ich umarme meinen Vater. „Natürlich. Schließlich warst du damals selbst vom Gift kontrolliert..."

Dann sehe ich zu Morro.

Er steht etwas von uns entfernt in der Ecke und hat mir halb den Rücken zugekehrt. Trotzdem sehe ich etwas auf seiner Wange, das Licht spiegelt sich...in einer Träne?

Niemals zuvor hatte ich mehr Mitleid mit jemandem als in diesem Moment. Ich muss mich zusammen reißen, um nicht selbst loszuheulen.

Vorsichtig stehe ich auf. „Morro...?", frage ich vorsichtig. Das hätte ich wohl lieber gelassen. Er zuckt zusammen, dann wirbelt er herum.

„RAUS!", schreit er. Zuerst denke ich, er meint mich, aber dann stürmt er an mir vorbei auf meinen Vater zu. Er packt ihn am Kragen und schüttelt ihn durch.

„Verschwinde SOFORT! Oder es könnte sein, dass ich vergesse, wo wir sind und dass deine Tochter zuschaut!"

Mein Vater macht sich los. „Natürlich...ich gehe schon."

Er dreht sich noch einmal zu mir um „Leb wohl, Ley-", aber Morro lässt ihn nicht ausreden. Er versetzt ihm einen Schlag, sodass mein Vater gegen die Wand taumelt. Dann öffnet sich eine Art Portal und mein Vater wird aus meinem Körper gesaugt.

Das letzte, das ich von ihm sehe, ist seine ausgestreckte Hand.

Das ist zu viel. Zu viel Emotion, zu viel Leid, zu viel Stress oder was auch immer, aber ich muss irgendwo hin mit meinen aufgestauten Emotionen.

Und der einzige, an dem ich es auslassen könnte, ist Morro.

„Du-", ich komme auf ihn zu und schreie ihn an.

„Ich wollte mich von ihm verabschieden, weißt du? Und er sich von mir! Wir haben uns sehr lange nicht gesehen und ich, ich habe ihn sehr vermisst! Aber das kannst du ja nicht verstehen! DU vermisst niemanden. Und es gibt ja auch niemanden, der dir wichtig ist!"

Ich sollte aufhören, aber ich kann nicht.

„Du hast keine Gefühle, das einzige, was dir wichtig ist, bist du selbst! KEIN WUNDER DASS ES NIEMANDEN GIBT, DER DICH MAG!"

The Girl who never falls and the Ghost who never feelsWhere stories live. Discover now