6. Nicht ganz das, was ich erwartet habe

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„Wohin bist du eigentlich unterwegs?", frage ich genervt. Es inzwischen fast Mittag und Morro ist seit Sonnenaufgang auf den Beinen.

„Sag ich dir nicht – zumindest noch nicht.", erwidert er ohne mich anzusehen.

Als er beschließt, eine kleine Pause zu machen und sich wieder zu mir umdreht, fällt mir plötzlich auf, dass er bis jetzt kein einziges Mal seine Kapuze abgenommen hat. Nicht, dass es mir wichtig wäre, zu erfahren wie er aussieht, aber neugierig bin ich schon.

„Warum trägst du eigentlich ständig diese Kapuze? Schämst du dich etwa für dein Aussehen?"

Er lacht kurz auf. „Nein. Aber so sehe ich um einiges gefährlicher aus."

„Ach. Und du willst, dass ich Angst vor dir habe oder was?"

„Hm...wenn du mich so fragst...eigentlich nicht."

„Und warum nimmst du sie dann nicht ab?"

Er zögert und wendet sich zu mir um. „So ganz ohne Gegenleistung?"

Ich kann mir ein verächtliches „Pft" nicht verkneifen. „Du hast doch schon meinen Körper. Was willst du denn noch?"

Er kommt näher. „Was hältst du davon, mir zu verraten wie du heißt?"

Überrascht sehe ich ihn an. Das soll alles sein? „Hättest du beim Gespräch mit meinen Freunden aufgepasst, wüsstest du wie ich heiße."

Er lächelt. „Hab ich aber nicht. Zumindest nicht darauf. Außerdem könnte ich mich auch verhört haben...also, haben wir einen Deal?"

Ich sehe ihn an. Warum eigentlich nicht? Ich meine, es würde mir doch nicht schaden ihm meinen Namen zu verraten, oder?

Ich zögere noch kurz, dann nicke ich. „Also schön. Aber du zuerst."

„Also gut."

Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe, als er seine Kapuze abnimmt, vielleicht jemanden der alt und hässlich ist, so einen mit Hackennase und tief in den Augenhöhlen liegenden Augen.

Aber leider ist Morro weder alt noch hässlich. Ganz im Gegenteil. Vor mir steht ein Teenager, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich. Aber das ist nicht der Grund warum ich ihn im ersten Moment anstarre als hätte er drei Augen.

Verdammt, gibt es kein Gesetz, das es bösen Geistern verbietet, so gut auszusehen? Ich meine, das ist doch nicht fair oder? Da wird man einmal in Besitz genommen und bekommt auch noch einen ab, der aussieht als hätte jemand sein Gesicht mit Photoshop nachbearbeitet.

Er grinst, vermutlich weil ich ihn immer noch anstarre. „Nicht ganz, was du erwartet hast, oder?" Schnell wende ich meinen Blick ab.

Er hat glatte schwarze Haare, die bis auf seinen Schultern fallen. Eine Strähne ist grün gefärbt, und auch wenn ich eigentlich finde, dass Jungs mit Stränchen albern aussehen, ihm steht es. Er hat ein spitzes Kinn, eine gerade Nase und volle Lippen.

Aber das schönste und gleichzeitig ungewöhnlichste an ihm sind seine Augen. Sie stehen leicht schräg und sind von dichten dunklen Wimpern umrandet, aber das besondere an ihnen ist die Farbe.

Ich habe noch nie so helle Augen gesehen. Sie sind so hellblau, dass sie fast schon wieder weiß sind. Sogar heller als die von Zane.

Ich merke, dass er immer noch auf eine Antwort wartet. „Nein", sage ich und versuche, möglichst unbeteiligt zu klingen.

Er kommt näher und ich sehe ihn erst wieder an, als es nicht anders geht. Sein Gesicht ist meinem so nahe dass unsere Nasenspitzen sich fast berühren.

Er lächelt. „Du bist dran, Grüner Ninja. Du wolltest mir doch verraten, wie du heißt, oder?"

Verdammt, wenn er aufhören würde, mich so anzusehen, wäre es um einiges leichter ihm zu antworten.

Reiß dich zusammen, Leyla, ermahne ich mich selbst. Er sieht vielleicht nicht schlecht aus aber das bedeutet noch lange nicht, dass du dich von ihm so aus der Fassung bringen lassen musst.

Ich hole tief Luft und schließe kurz die Augen. „Ich heiße Leyla. Leyla Montana Garmadon."

Er lächelt und sieht auf einmal noch besser aus – wenn das überhaupt möglich ist.

„Freut mich dich kennenzulernen, Leyla."

Endlich wendet er sich ab. Ich schließe die Augen und versuche, meinen Herzschlag, der sich innerhalb der letzten Minuten verdoppelt hat, wieder zu beruhigen.

Es ist nichts passiert, Leyla, versuche ich mich selbst zu beschwichtigen. Er hat dir weder etwas angetan noch bist du sonst in irgendeiner Art und Weise in Gefahr.

Aber warum hämmert mein Herz dann, als wäre ich gerade einen Marathon gelaufen?


Kai, Jay, Cole, Zane und Nya sitzen im Zimmer der Jungs und unterhalten sich.

„Glaubt ihr, es geht Leyla immer noch gut?", fragt Nya.

„Nicht solange dieser Typ ihren Körper besetzt hat.", meint Kai grimmig.

„Also ich glaube nicht, dass Morro Leyla etwas antun würde.", mischt sich Zane ein. „Er wird eher versuchen, durch sie an unsere Geheimnisse zu gelangen."

„Man, der Typ soll die Finger von ihr lassen!" Kai schlägt mit der Faust gegen die Wand. „Wenn ich den in die Finger kriege..."

„Hey hey, immer mit der Ruhe Kai...", versucht Nya ihren Bruder zu beruhigen. „Leyla kann auf sich aufpassen. Du kennst sie doch! Sie ist keine von den Mädchen, die sich leicht um den Finger wickeln lassen. Vor allem nicht von bösen Geistern."

„Jaa....wenn nicht einmal Kai eine Chance bei ihr hatte..." doch dieser lässt Jay ausreden. „Das kann man nicht vergleichen! Immerhin glaube ich kaum, dass Morro mit ihr flirten wird..." Er sieht erwartungsvoll in die Runde, aber entgegen seiner Erwartungen bleibt die Zustimmung aus.

„Naja, ich würde das mal nicht ausschließen...", beginnt Jay vorsichtig.

„Ist zwar unwahrscheinlich aber durchaus möglich...", beginnt Cole.

Kai ballt die Fäuste. „Wehe er wagt es sie anzurühren...das würde er bitter bereuen..."

„Hey, davon reden wir nicht.", meint Nya besänftigend. „Wie gesagt, Morro könnte es vielleicht versuchen aber ich glaube kaum, dass Leyla ihn an sich ranlässt. Du hast sie doch gehört!"

Später, als Nya in ihrem Bett liegt, denkt sie noch einmal an die Unterhaltung mit den Jungs und beginnt plötzlich, sich doch Sorgen zu machen.

Mach dich nicht lächerlich, Nya, ermahnt sie sich selbst. Leyla ist das Mädchen, das sich niemals verliebt. Oder?


The Girl who never falls and the Ghost who never feelsWhere stories live. Discover now