Stille Stunden

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Annika strich ein letztes Mal mit ihren Fingern über das abgewetzte Holz des Treppengeländers, als sie nach unten in die Hall ging. Matthew hatte schon ihre Tasche und ihre Kleider nach unten getragen. Sie hatten am Morgen noch ausgiebig gefrühstückt und jede verbleibende Minute genossen. Jetzt war es an der Zeit Abschied zu nehmen.

Kurz vor zehn hörten sie ein Auto in der Einfahrt und automatisch beschleunigte sich Annikas Herzschlag. Ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief, war Nick gewesen. Sie wusste nicht, was sie von dem Kuss halten sollte. Er war schön gewesen, sie hatte ihn genossen. Sie war überrascht gewesen, wie sehr sie ihn genossen hatte.

Aber er war plötzlich gekommen. Sie hatte nicht wochenlang sehnsüchtig darauf gewartet. Oder hatte sie?

Und sie war mehr als nur gespannt, wie Nick reagieren würde. Der Kuss war kein Start in eine Beziehung gewesen, das war ihr klar. Aber bereute er den Kuss? Würde er etwas dazu sagen? Sollte sie etwas dazu sagen? Immerhin war er ihr Trainer und eine Beziehung zwischen ihnen war wohl kaum möglich. Wollte sie überhaupt eine Beziehung mit Nick?

Der Kuss hatte sie verwirrt. Und beglückt. Aber am meisten verwirrt.

"Ich kann kaum glauben, dass die Woche schon vorbei ist", riss Matthew sie aus ihren Gedanken, als er die Haustür aufmachte. Daphne stand neben ihm und sah auch betrübt aus. Die Kälte kroch schnell ins Haus und Annika begann mehr zu zittern, als eh schon. Sie schlüpfte in ihre Jacke und ihre Schuhe und trat nach draußen, wo Nick in dem Moment aus dem Auto stieg. Ein flüchtiges Grinsen huschte über sein Gesicht, doch mehr konnte Annika daraus nicht lesen. Matthew und Daphne kamen hinterher und begrüßten Nick, der ihnen eine Umarmung gab.

"Hey", sagte er, als er bei Annika ankam, gab auch ihr eine Umarmung, sie spürte aber deutlich die Distanz, die er zwischen ihnen legte. Hatte sie es doch geahnt. Er nahm das Gepäck von Matthew ab und ging damit zum Auto. Kurz sah Annika ihm nach und bereute, dass sie mit ihm fahren würde. Hätte sie doch nur den Zug genommen!

Wehmütig drehte sie sich zu Matthew und Daphne. "Ich weiß gar nicht, wie ich mich für diese Woche bedanken soll", fing sie an und merkte, dass sie den Tränen nah war. Wieso mussten sie auch in Schottland wohnen?

"Wir sagen danke! Danke, dass du Leben in unser Haus gebracht hast", sagte Daphne mit leicht brüchiger Stimme und zog Annika in eine feste Umarmung. "Wir lieben dich, Annika. Du bist hier immer willkommen. Du bist die Enkelin, die wir nie bekommen haben"

"Enkelin? Tochter!", kam es von Matthew, der hinter Daphne stand und darauf wartete, dass er Annika umarmen konnte.

"Ich werde euch schrecklich vermissen!" Sie wurde von ihrem Großonkel fast erdrückt. "Und hey, wenn dein Buch erscheint, will ich ein handsigniertes Exemplar", grinste sie ihn an.

"Mal sehen, ob er überhaupt fertig wird", ärgerte Daphne ihn und erinnerte wieder Annika daran, wieso sie die beiden so sehr ins Herz geschlossen hatte. Und wieder einmal wünschte sie sich, dass ihre Oma eher wie Daphne war.

"Bring sie gut nach Hause", sagte Matthew dann an Nick gewandt, der neben Annika getreten war.

"Darauf können Sie sich verlassen."

Sie winkte Daphne und Matthew noch einmal zu und ging schweren Herzens zu Nicks Auto. Als sie sich hinein gesetzt hatten, wischte sie sich schnell einige Tränen von den Wangen.

"Alles klar?", fragte Nick sie, woraufhin sie nur nickte. Sie winkte noch einmal aus dem Fenster, bevor sie endgültig den Landsitz hinter sich brachten.

Und dann breitete sich eine unangenehme Stille im Auto aus.

Annika hielt ihren Blick stur aus dem Fenster gerichtet. Sie war sich darüber bewusst, dass das so nicht bis heute Abend funktionieren würde, aber etwas besseres fiel ihr im Moment nicht ein. Denn auch Nick schien nicht so, als wolle er irgendetwas sagen.

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