Lieber Stolz...

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„Zum Schluss kann ich nur noch sagen, dass ich das Buch wärmstens empfehle - und nicht nur für die Leseratten unter uns." Annika lächelte, nahm ihr Exemplar von James Joyce' 'Ulysses' in die Hand und ging unter Applaus zurück zu ihrem Platz. Sie atmete erleichtert aus. Froh darüber, ihre Buchvorstellung beendet zu haben, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.

„Vielen Dank, Annika. Das war eine hervorragende Präsentation. 'Ulysses' ist übrigens in der Bibliothek zu erhalten, sollte jemand Interesse daran haben, es zu lesen." Mrs. Miller lächelte Annika noch einmal dankend zu und führte dann den Unterricht fort.

"Wann um alles in der Welt hast du es auf die Reihe gekriegt, das Buch zu lesen?", flüsterte Caro ihr erstaunt zu. Annika musste grinsen. Sie hatte selber keine Ahnung, wie sie es geschafft hatte, sich durch dieses teilweise sehr langatmige 1000 Seiten Buch zu quälen.

„Mir war in den Ferien langweilig", versuchte sie.

„Du hast kein Leben, so schaut's aus...", erwiderte Caro, völlig geschockt darüber, wie jemand freiwillig ein Buch, vor allem gleich so ein Buch, lesen konnte. Selber bevorzugte sie Sudoku-Rätsel oder ähnlichen Kniffelspaß, statt Literatur. Annika lächelte nur, sie akzeptierte Caros Verständnislosigkeit vollständig, auch wenn sie sie nicht mit ihr teilte.

„Apropos Ferien", flüsterte Caro weiter. Im Unterricht leise zu sein war nicht gerade ihre Stärke. „Hast du in den Weihnachtsferien schon was Bestimmtes vor?" Sie schielte zu Annika rüber, die kurz überlegte.

„Ich fahr wahrscheinlich zu meinen Großeltern nach London. Ich habe auch überlegt eine Woche von den vieren hier in der Schule zu verbringen, damit ich für die Semesterklausuren lernen kann. Warum fragst du?" Annika schaute schnell zu Caro und schrieb dann weiter Mrs. Millers Tafelanschrieb ab.

„Ich wollte für eine Woche nach Cornwall fahren und dachte mir, vielleicht hast du Lust mit zu kommen?"

„Wird deine Familie dich fahren lassen?" Annika wusste, dass Caro eine große Familie hatte und sich alle sehr nahe standen.

„Ach weißt du, ich brauch auch mal 'ne Pause von meinen vier Brüdern."

„Die hast du doch die ganze Schulzeit über?"

„Annika, du bist Einzelkind, du verstehst das nicht", gab Caro klug von sich. Annika ging nicht weiter darauf ein.

„Und was willst du in Cornwall machen?"

„Ich dachte, ich miete mir so ein kleines Cottage am Hafen oder verborgen hinter irgendwelchen Dünen. So richtig gemütlich mit Kamin und allem, weißt du." In dem Moment klingelte es zur Mittagspause. Caro und Annika standen auf und packten ihre Sachen zusammen, während Caro noch weiter schwärmte.

„Wir müssen selber kochen und backen und können nachmittags im Wind am Strand spazieren gehen... Ach, Annika, das wäre doch herrlich!" Annika lächelte Caro an.

„Hast du nicht was vergessen?" Caro schaute misstrauisch.

„Was meinst du?" Sie wirkte so, als wolle sie die Antwort gar nicht hören.

„Wie wär's mit Lernen?"

„Ach, das..." Sie machte eine abfällige Bewegung mit der Hand und warf sich die Tasche über die Schulter. „So viel müssen wir wahrscheinlich gar nicht können, mach dir mal keinen Stress." Annika folgte Caro aus dem Klassenzimmer.

„Wie bitte? Wir schreiben im Januar neun Prüfungen! Wir müssen den Stoff vom ganzen Halbjahr wissen und da soll ich mir keinen Stress machen?" Annika bekam fast Panik, weil Caro die ganze Sache so gelassen nahm. Diese schaute sie tadelnd an.

„Wir sind nicht alle so perfektionistisch wie du, Annika. Es ist ja eh nur das zweite Jahr hier. Solange wir nicht durchfallen sind die Noten jetzt mehr oder weniger egal."

„Für dich vielleicht. Aber man muss sich doch vorbereiten!" Natürlich hatte Caro recht. Das Zeugnis diesen Jahres war nach dem Abschluss eh nicht mehr relevant. Aber Diana wäre nicht begeistert, wenn Annika keine Topnoten erzielen würde.

„Wir können ja auch zusammen ein wenig lernen, wenn es das ist, was nötig ist, um dich mit zu bekommen", meinte Caro, als sie auf dem Weg zu ihrem Zimmer waren, um ihre Sachen abzulegen, bevor sie zum Speisesaal gingen. Weder Rebecca noch Verity waren da, deswegen nutzte Caro die Gelegenheit und lehnte sich verschwörerisch zu Annika.

„Das hier darf ich dir eigentlich gar nicht sagen, Simon hat es mir verboten, aber ich finde du solltest es wissen. Und sag es ja keinem weiter!" Caro wartete, bis Annika es versprochen hatte, dann flüsterte sie: „Angeblich umgibt Nick seit eurem kleinen Streit am Samstag eine düstere Wolke. Es geht anscheinend nicht spurlos an ihm vorüber, wenn ihr eine kleine Meinungsverschiedenheit habt." Annika machte große Augen.

„Er ist wahrscheinlich einfach sehr nachtragend", schlug sie vor. Vorgestern im Training hatte er sie nicht ein Mal angesprochen, sie nicht gelobt, nicht kritisiert, nicht einmal Anweisungen hatte er ihr gegeben. Er hatte sie kalt gemustert, als sie die Halle betreten hatte, das war's. „Ich glaube, ihm gefällt es ganz und gar nicht, wenn jemand sich mal traut ihm zu widersprechen", mutmaßte Annika weiter. Caro nickte zustimmend.

„Aber wie gesagt, das hier weißt du offiziell nicht. Er tut so, als sei alles bestens, aber Simon kennt Nick ja schon ziemlich lange. Er meinte, dass Nick viel über das nachdenkt, was du ihm so vorgeworfen hast." Annika schaute Caro verblüfft an.

„Meinst du das stimmt? Er macht auf mich immer den Eindruck, als ließe ihn alles kalt, was ich ihm an den Kopf werfe."

„Du bist schließlich kein dummes Mädchen, Annika. Ich bin mir sicher, wenn er merkt, dass das, was du sagst, seine Berechtigung hat, dann tut er es nicht einfach als blödes Zeug ab. Er ist Perfektionist, da versucht er bestimmt Kritik umzusetzen, wenn er merkt, dass es vorteilhaft wäre. Aber da er ein Perfektionist ist, gefällt es ihm natürlich nicht kritisiert zu werden. Und deswegen zeigt er dir nicht, dass du womöglich was Wahres ihn bezüglich gesagt hast." Annika dachte über das nach, was Caro gerade gesagt hatte. Falls das stimmte, dann war Nick weniger stolz, als sie gedacht hätte. Es gehörte schon Demut dazu, die harte Kritik, die sie ihm gegeben hatte, anzunehmen - wenn auch widerwillig - und sein Verhalten zu ändern.

„Ich kann heute im Training ja mal darauf achten, wie er mich behandelt. Falls er mich überhaupt irgendwie behandelt. Montag hat er mir die kalte Schulter gezeigt." Caro schaute nicht einmal überrascht, zuckte lediglich mit den Schultern.

„Naja, er beschwert sich mit so einer Attitüde nur selber das Leben. Soll er doch." Annika versuchte Caros gleichgültige Haltung zu übernehmen, aber sie konnte es nicht ganz unterdrücken, sich über das bevorstehende Training, geschweige denn sich über die nächsten Monate, Gedanken zu machen.

Spiel der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt