35 | T O M

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Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieser Engel mit den blonden Locken, die Empfangsdame am Tor zur Hölle ist. Dabei habe ich momentan genug Scheiße an der Backe. Wer auch immer da oben über Leben und Tod entscheidet, er hat keine Ahnung! Während ich mit ein paar Rippenbrüchen und einer Lungenquetschung davongekommen bin, musste ein Kind sterben. Ach, was sag ich? Er war ein Baby! Das ist einfach nicht fair ...

Nicht genug damit, dass ich so schnell nicht wieder einsatzfähig sein werde. Nein! Mein über alles geliebter Bruder hat seit gestern keine Gelegenheit ausgelassen, mir auf die Eier zu gehen. Heute Morgen reichte es mir dann endgültig. Charmant habe ich ihn dazu aufgefordert das Zimmer zu verlassen.

Sauerstoff. Der spinnt doch! Es reicht schon, dass ich dieses nervtötende Teil gestern die ganze Zeit in der Nase behalten musste, weil Daniel mir liebevoll zu verstehen gegeben hat, dass es besser wäre mich an ›die Regeln‹ zu halten. Sonst darf ich nämlich noch länger zu Hause rumsitzen.

Hartnäckig war diese Nervensäge ja schon immer, aber seit wann ist er bitte sarkastisch?

Vor allem, nachdem wir auf Emma und diese fürchterliche Hochzeit zu sprechen kamen. Vielmehr ist es mir rausgerutscht, weil er nicht locker gelassen hat. Als ob ich freiwillig Zeuge dieses Trauerspiels sein würde, nur um meiner masochistischen Ader eine neue Dimension zu geben.

So ein Schwachsinn kann auch nur von ihm kommen.

Wo wir gerade bei Schwachsinn sind. Ich bin davon auch nicht mehr weit entfernt. Sonst würde ich nicht mit schnellen Schritten auf Emma zugehen. Wobei schnell ist eher relativ. Mein Brustkorb brennt nach wie vor, aber ich habe keine Lust darauf noch länger wie ein Hund an dieses Scheißbett gekettet zu sein.

Emma steht nach wie vor regungslos an der Tür. Sie zittert. Sie hätte einfach nicht herkommen dürfen. Dass sie mich gefunden hat, habe ich bestimmt auch Daniel zu verdanken. Dabei habe ich ihm nach unserem tollen Gespräch gestern ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass ich das mit Emma selbst kläre. Das hätte ich wirklich. Wenn etwas Gras über die Sache gewachsen wäre. Aber nein! Er musste ihr ja alles brühwarm erzählen.

Drecksack.

Ohne darüber nachzudenken schiebe ich mich zwischen Emma und die Tür.

Ihr Blick klebt an ihren Schuhen. Sie zuckt zusammen, als ich ihre Hand vorsichtig von der Klinke nehme. Die Nähe zwischen uns scheint ihr alles andere als recht zu sein. Sonst würde sie wohl kaum einen großen Schritt zurücktreten und die Arme um ihren Körper schlingen. Es sieht fast so aus, als würde sie sich davor bewahren wollen, auseinanderzubrechen. Wahrscheinlich hasst sie mich dafür, dass ich mich ihr in den Weg gestellt habe.

Doch so will und kann ich sie nicht gehen lassen.

Ohne mich einen Millimeter wegzubewegen, senke ich meinen Kopf. Ich hatte es befürchtet. Trotzdem sind die Tränen, die in ihren Augen schimmern wie ein Schlag ins Gesicht. Und noch etwas fällt mir auf. Emma ist komplett ungeschminkt. Nicht mal Wimperntusche trägt sie. Wobei sie die ohnehin nicht braucht. Sie muss es also verdammt eilig gehabt haben hierher zu kommen.

Wegen mir.

Wieder muss ich an das denken, was Daniel gesagt hat. Ich könnte mir links und rechts eine runterhauen. Sie war wirklich außer sich vor Sorge. Und trotzdem fällt mir Idiot nichts Besseres ein, als ihr Vorwürfe zu machen.

And the Oscar goes to ... me, myself and I! So eine empathische Meisterleistung muss schließlich gewürdigt werden.

»Hey.« Meine Stimme klingt kratzig. Wahrscheinlich habe ich doch ein bisschen zu viel Rauch eingeatmet. »Komm mal her«, sage ich und mache mit ausgestreckten Armen einen Schritt auf sie zu.

Where Doubts should be silentWhere stories live. Discover now