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Im Schritttempo fahre ich die Straße entlang und blicke mich um. Als ich gesehen habe, um welches Stadtviertel es sich handelt, war mir schon klar, dass die Gegend nicht die beste ist. Dass sie jedoch so trostlos ist, macht mich traurig. Dreckige Bordsteine, an denen Baracken stehen. Wände, bei denen man vor lauter Graffiti nicht mehr erkennen kann, welche Farbe sie einst hatten. Und Menschen, denen das Wort Hoffnungslosigkeit quasi ins Gesicht geschrieben steht.

Ich weiß sehr wohl, dass es genug Elend in dieser Stadt gibt. Dabei dachte ich immer, Skid Row wäre die Straße der Verlorenen. In keiner Gegend leben so viele Obdachlose wie dort. Traurig, wenn man bedenkt, dass es nur ein paar Meilen weiter Menschen gibt, die in ihrem Geld schwimmen können. Oft liegen Gegensätze erschreckend nah beieinander. Freude und Trauer. Hoffnung und Verzweiflung. Licht und Schatten. Oder eben Arm und Reich. Dennoch verlieren wir immer mehr den Blick dafür. Dabei müsste jeder nur einen kleinen Funken Hoffnung versprühen, um diese Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Gemeinsam würden wir das schaffen.

Ich bin mir im Klaren darüber, dass dieses Denken naiv und kindlich ist. Dennoch fahre ich regelmäßig nach Skid Row. Versorge die Menschen mit warmem Kaffee, belegten Brötchen, Decken und Kleidung. Ich gebe zu, dass ich anfangs Angst hatte, als ich diesen Weg betreten habe, der gesäumt ist von Scherben, gebrauchten Injektionsnadeln und Müllhaufen, in denen Ratten fiepen. Die Dankbarkeit, die mir von vielen jedoch entgegengebracht wurde, hat mir gezeigt, dass es richtig ist.

John würde es überhaupt nicht gutheißen, wenn er wüsste, dass ich, ich zitiere: »Sein hart verdientes Geld an irgendwelche Penner verteile«. Er spendet zwar auch, aber ich denke, er tut es vor allem wegen der guten Presse. Warum sollte er sich sonst jedes Mal ablichten lassen, wenn er einen Scheck an irgendeine Wohltätigkeitsorganisation überreicht?

Inzwischen habe ich angehalten. Ich krame mein Handy aus der Tasche und öffne die Nachricht von gestern.

Tom: Ich weiß, du hast gesagt, ich soll mich nicht einmischen, aber ich glaube, dass diese Kinder dankbar wären, wenn du ihnen zeigst, was im Leben wirklich zählt.

Auch diesmal muss ich schlucken. Nicht nur, weil er sich schon wieder gemerkt hat, was ich gesagt habe, sondern weil er mir tatsächlich beweisen will, dass es auch Menschen gibt, die ein gutes Herz haben. Leider komme ich langsam zu dem Schluss, dass er einer davon ist.

Um mich abzulenken, sehe ich auf die Adresse und vergleiche sie mit dem rostigen Straßenschild vor mir. Sie stimmt, auch wenn mir die Tatsache, dass hier Kinder wohnen sollen, nicht wirklich behagt.

Schließlich entdecke ich ein altes Backsteinhaus. Es sieht zwar nicht ganz so heruntergekommen aus, aber einladend ist es deshalb noch lange nicht. Dunkle Mauern, abgesplitterte Fensterrahmen und keinerlei Grün lassen nicht gerade darauf schließen, dass man sich hier wohlfühlen könnte. Vorsichtig öffne ich das Holztor, das ebenfalls einen Anstrich dringend nötig hat und gehe die vier Stufen bis zur Tür hinauf. Ein letztes Mal wandert mein Blick an der Fassade entlang, ehe ich die abgegriffene goldene Klingel betätige.

»Ich komme«, flötet eine Stimme von drinnen, während ich meine Handtasche an mich presse und von einem Bein auf das andere trete.

Die Tür öffnet sich. Durch das Fliegengitter erkenne ich eine Frau um die Sechzig. Vielleicht auch älter.

Sie öffnet mir auch diese Tür und überwindet die letzte Barriere zwischen uns. Ein bisschen erinnert sie mich an meine Oma. Sie legte genau so viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Und zwar bis ins hohe Alter. Außer meinen Haaren habe ich ziemlich viel von ihr geerbt. Vielleicht mochte die Frau, die mich auf die Welt gebracht hat, mich deshalb nie. Immerhin ging es ihr bei ihrer Schwiegermutter genauso. Sie hat sie förmlich verabscheut. Dabei war meine Oma eine wirklich tolle und weise Frau, zu der ich aufgeschaut habe.

Where Doubts should be silentWhere stories live. Discover now