15 | E M M A

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Schon immer hat mich die Natur fasziniert. Egal, ob es ein Sonnenuntergang, das Meer oder die vielfältige Tier- und Pflanzenwelt ist. All das zeigt mir jeden Tag, wie wunderschön und bunt dieser Planet ist. Letztlich sind es die Menschen, die ihn zerstören. Mit ein Grund dafür, warum ich zwischendurch in meine eigene kleine Welt abtauche. Eine, in der alles leicht und rosarot ist, um die Realität erträglicher zu machen. Zumindest rede ich mir das ständig ein.

Seitdem ich Tom kenne, ist das anders. Wobei das wohl der falsche Ausdruck ist. Im Grunde genommen habe ich überhaupt keine Ahnung, wer dieser Mann wirklich ist. Obwohl wir in den letzten Wochen ziemlich viel Zeit miteinander verbracht haben. Aber sind wir deshalb gleich Freunde? Die erzählen sich doch alles. Jedenfalls ist das bei Lucy und mir so. Vielleicht handhaben Männer das aber auch einfach anders. Wer weiß das schon?

Was ich allerdings weiß, ist, dass seine Reaktion auf dieses Lied ziemlich erschreckend war. Für einen kurzen Moment habe ich gedacht, wir landen im nächsten Graben. Plötzlich war sein braun gebranntes Gesicht weiß wie die Wände in Johns Villa. Ich war heilfroh, dass Tom auf mich gehört und angehalten hat. Noch einen Unfall brauche ich nicht.

Das war jedoch nicht der alleinige Grund, warum ich aus dem Wagen geflüchtet bin. Vielmehr habe ich mich geschämt. Diese verdammte App hat rund siebzig Millionen Lieder zur Auswahl und ich suche mir ausgerechnet dieses aus? Wie dämlich kann man sein?

Nachdem ich die Wasserfälle und die Mammutbäume bestaunen durfte, ist es mittlerweile Abend. Bisher war dieser Tag einfach großartig. Obwohl ich mich immer noch frage, womit ich das verdient habe. Er hat nicht nur die Fahrt auf sich genommen, sondern sich auch nicht nehmen lassen die Tickets zu zahlen. All mein Zetern, dass ich selbst Geld dabei hätte und er mich nicht einladen müsse, hat nichts gebracht. Ich soll es als verspätetes Geburtstagsgeschenk betrachten, hat er gesagt. Sicher. Nach über fünf Monaten. Ich mag zwar wirklich keine Überraschungen, aber diese ist ihm auf jeden Fall gelungen.

Gerade verfluche ich ihn allerdings ein wenig. Angestrengt setze ich einen Fuß vor den anderen, während er im Laufschritt gut zwei Meter vor mir geht. Erst war ich dagegen hier hochzukraxeln, aber Tom meinte, dass mir Tuolumne Meadows gefallen würde und ich etwas verpasse, wenn ich diesen blöden Berg nicht bezwinge. Eigentlich klettern wir gar nicht richtig. Es ist nur ein steiler Wanderweg.

›Nur‹ ist gut, meckert der Teil von mir, der jegliche Art von Sport verabscheut. Meine Lungen signalisieren mir, dass ich es in drei Jahren nicht schaffen werde, oben anzukommen. Und wenn, dann kann ich diese ach so tolle Aussicht nicht genießen, weil ich erst mal ein Sauerstoffzelt benötige, um nicht elendig zu ersticken. Und als ob das nicht alles schlimm genug wäre, stelle ich mir schon die ganze Zeit eine einzige Frage: Soll ich ihn noch mal auf die Sache von heute Mittag ansprechen?

Gut. Ich bin auch nicht gerade jemand, der mit dem, was ihm im Leben passiert ist, um sich schmeißt, aber Tom macht mir so langsam echt Konkurrenz. Dieser Mensch ist ein Buch mit sieben Siegeln für mich. Einerseits ist er dreist und direkt, doch in manchen Momenten habe ich den Eindruck, dass das nur Fassade ist. Eine, die ziemlich ordentlich verputzt ist und deshalb nur selten bröckelt. Wie soll ich denn bitte nicht gleich ins nächste Fettnäpfchen trampeln, wenn ich nicht weiß, was ich falsch mache?

Dabei bin ich sonst ziemlich gut darin Menschen zu beobachten. Diese feinen Antennen haben mir in der Vergangenheit treue Dienste erwiesen. Sie haben mich zwar nicht vor allen Enttäuschungen bewahren können, aber mit jeder wurden sie feinfühliger und mittlerweile glaube ich erkennen zu können, ob jemand ehrlich ist oder nicht. Und Tom verheimlicht mir etwas. Da bin ich mir inzwischen sicher.

»Du bist ganz schön langsam, Emmchen!«

Erst jetzt fällt mir auf, dass er sein Tempo gedrosselt hat. Rückwärts läuft er vor mir her und sieht dabei nicht mal ansatzweise so fertig aus wie ich.

Where Doubts should be silentWhere stories live. Discover now