P R O L O G | E M M A

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Hoffnung ist die Magie des Alltags.

Du kannst sie nicht sehen. Und doch lässt sie dich Tag für Tag aufstehen, obwohl du dir oft genug wünschst, nie mehr aufzuwachen. Sie setzt ungeahnte Kräfte in dir frei, wenn du kurz davor bist aufzugeben. Und zeigt dir, wer du sein könntest, wenn dein härtester Gegner dich lassen würde.

Wer ich wirklich bin? Das wissen nur wenige. Genau genommen nur ein einziger Mensch. Lucy, die mich in einer meiner dunkelsten Stunden zurück ins Licht geführt hat und bis heute nichts unversucht lässt, damit ich nicht wieder in der Finsternis versinke.

Irgendwann kommst du allerdings an einen Punkt, da musst du dir eingestehen, dass du nicht jeden Kampf gewinnen kannst. In meiner Wahlheimat nennen sie es den Point of no Return. Die letzte Reise, die du antrittst, wenn deine innere Uhr die Stunde Null schlägt. Mit einem One-Way-Ticket ins Nirgendwo.

Ich bin gerade an diesem Punkt. Dabei wollte ich selbst jetzt nicht aufgeben. Ich habe gekämpft, geschrien und am Ende sogar gebetet.

Doch die Tür zur Freiheit blieb verschlossen.

Benommen schaue in das Meer aus Lichtern. Sie funkeln. So als würde ich durch ein Kaleidoskop sehen. Atemberaubend und beruhigend zugleich. Genauso wie die leise Melodie, die ich summe. Und das stetige Knistern im Hintergrund.

Sternenhimmel, Lagerfeuer und Musik. Es könnte fast romantisch sein. Wären da nicht der breite Riss in der Windschutzscheibe, die lodernde Flamme, die sich durch den weißen Lack frisst, und die bittere Erkenntnis, dass dieser Käfig aus Stahl, das Letzte sein wird, das ich sehe, ehe sich meine Augen für immer schließen.

Noch einmal mobilisiere sämtliche Kräfte. Doch allein der Versuch, mich zu bewegen, schmerzt so sehr, dass erneut Tränen meine Wangen herunterkullern.

Erschöpft schließe ich die Augen, warte auf eine Absolution, die mir niemand erteilen wird. Nicht mal ich selbst. Es gibt Fehler, die sind halt nicht zu verzeihen. Erst recht nicht einer Neununzwanzigjährigen, die ihr Leben unter Kontrolle haben und angekommen sein sollte.

Zu Hause. Vielleicht war ich mit John bereits an diesem Punkt, ohne es sehen zu können. Menschen neigen dazu unermüdlich nach etwas zu suchen, dass es höchstwahrscheinlich nicht einmal gibt. Dabei blenden sie oft das aus, was sie bereits gefunden haben. Leider musste ich erst meine wenigen Gehirnzellen in Alkohol ertränken, um das zu erkennen.

Jetzt ist es zu spät. Aber wie sage ich immer so schön? Man kann nicht alles haben. Lucy meint, ich wäre pessimistisch. Sie hat unrecht.

Ich bin Realist.

Das Knistern wird leiser. Genauso wie die Melodie in meinem Kopf, die mir bisher immer Hoffnung gegeben hat. Erfasst von einer alles verschlingenden Müdigkeit entspannt sich ein Muskel nach dem anderen. So als würde mein Körper sämtliche Schleusen öffnen, damit ich in der endlosen Schwere ertrinken kann. Paradox, wenn man bedenkt, dass ich verbrennen werde.

Aus der Ferne höre ich ein Knarzen. Ob das der Tod ist, der an die Tür klopft? Ob er ein schwarzes Cape trägt und eine Sense in der Hand hält? Vielleicht setzt sich auch gleich ein junger Mann mit schwarzem Anzug und schwarzer Krawatte neben mich. Mit blonden Haaren, blauen stechenden Augen und einem unwiderstehlichen Lächeln, das ...

»Hey!«

Na toll. Selbst der Tod kann mich nicht ausstehen. Sonst würde er wohl kaum an mir rütteln und damit den Schmerz, den ich kurzzeitig vergessen habe, zurück an die Oberfläche holen.

»Bei mir bleiben, okay?«

Diese Stimme. Sie klingt männlich. Und viel zu sanft, um jemandem weh zu tun. Mühsam öffne ich die Augen und blicke in ein fremdes Gesicht hinter einer Maske. Es ist tatsächlich ein Mann. Ich will ihm sagen, dass er sich in Sicherheit bringen soll, doch die nächste Hustenattacke hindert mich daran.

»Keine Angst. Ich ... hole Sie hier raus.« Er drückt mir etwas aufs Gesicht. »Schön ruhig atmen und die Augen auflassen.«

Ich nicke und bereue es, als er abtaucht und kurz darauf der stechende Schmerz in meinen Fuß zurückkehrt. Je heftiger es mich zerreißt, desto schneller dreht sich alles in meinem Kopf, während der Mann ... er flucht? Ich höre Schreie. Mehrere, die sich miteinander vermischen und sich immer weiter von mir entfernen.

»Wachbleiben, hab ich gesagt!«

Selbst die energischen Worte des Fremden, die von der heißen Luft verschlungen werden, klingen, als wären sie Lichtjahre entfernt. So sehr ich mich auch bemühe, ich schaffe es nicht mehr, dieser Müdigkeit zu trotzen, die meinen Körper zunehmend lähmt. Es wird leiser. Dunkler. Und doch irgendwie ... friedlich. So friedlich wie schon lange nicht mehr.

Der Vorhang des Nebels lichtet sich langsam und offenbart mir wie von Zauberhand einen Weg, der von gleißendem Licht durchflutet wird. Wie ein Fluss schlängelt er sich ins Unendliche.

Ich habe Angst. Schreckliche Angst vor dem, was nun kommt. Und doch nehme ich das bisschen Mut, das ich besitze, zusammen und setze einen Fuß auf diesen Weg, von dem wahrscheinlich niemand sagen kann, wohin er führt.

»Alles wird gut.«

Begleitet von sanften Worten, die mich nach all dem Schmerz und der Enttäuschung einhüllen wie meine Kuscheldecke früher, trete ich meine letzte Reise an. Zu einem Ort, an dem die Hoffnung ihr zu Hause hat. Dort, wo das Licht heller scheint, als die Sonne es jemals könnte. Und Regenbögen so bunt strahlen, dass selbst die schlimmsten Schauer das größte Glück bedeuten.

Eine Welt, in der auch ich hoffentlich einmal dieser helle Schein sein darf, von dem ich immer geträumt habe.

Where Doubts should be silentWhere stories live. Discover now