~𝑬𝒍𝒇𝒕𝒆𝒔~

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Eine knappe Woche später bin ich schriftlich ein Jahr älter und gerade auf dem Weg zur S-Bahn. Da ich am Dienstag sechzehn geworden bin, habe ich endlich ein eigenes Bankkonto geschenkt bekommen.

Normalerweise wollten Esperanҫa und Kamil mir schon viel früher ein eigenes Konto einrichten, aber weil das insgesamt länger als ein Jahr gedauert hat, habe ich es erst jetzt bekommen. Selbst wenn ich Esperanҫas Geschenke normalerweise nicht annehme, freue ich mich über das Konto. Auf dieses Konto kann ich das Arbeitsgeld vom Secondhandshop überweisen und ich kann selbstständig abbuchen.

Esperanҫa hat mir mein Erspartes abgebucht, das ich eigenhändig auf mein Konto einzahlen soll, weil ich so lernen kann, wie das geht.

Als ich am Bahnsteig ankomme, steht die S-Bahn schon bereit, sodass ich entspannt einsteigen und mir einen Sitzplatz suchen kann. Natürlich suche ich meinen Lieblingsplatz hinter der Tür und seufze erleichtert auf, als er leer ist. Auch sonst ist die S-Bahn heute sehr leer, was wahrscheinlich daran liegt, dass in meiner Stadt ein kostenloses Open-air-Konzert stattfindet, zu dem natürlich besonders viele Menschen gehen. Für mich ist das nichts, weil ich die Band, die spielt, kein bisschen ausstehen kann.

Meine Mutter hat früher immer gesagt, dass diese Band kein guter Umgang für die Menschheit ist und irgendwie kann ich verstehen wieso, obwohl sie nie gesagt hat, warum. Blackberry hat sich vor fünf Jahren in den Medien mal gegen irgendwelche Menschen aufgeregt, die deshalb in den Knast mussten. Ich weiß nicht mehr worum es ging, weil ich noch jung war, aber am Ende mussten diese Menschen ohne richtige Argumente hinter Gitter.

Ich finde das nicht fair, besonders, wenn noch nicht mal genau feststeht, dass man etwas verbrochen hat. Im Gegensatz zu mir fanden seit dem Zeitpunkt mehr als eine Millionen Menschen diese Band toll und so wächst sie seit fünf Jahren rasend schnell und hat mittlerweile schon über zweihunderttausend Fans. So ist es auch kein Wunder, dass viele dieses kostenlose Fest besuchen.

Für mich hat es allerdings auch Vorteile, dass diese Band spielt, so ist die S-Bahn nicht gerammelt voll.

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Als wir nach zehn Minuten halten, stehe ich ausnahmsweise pünktlich auf und betrete den kleinen Bahnhof selbstbewusst. Selbst wenn dieses Stadtteil nur sehr klein ist, gibt es hier richtig viel. Neben den Läden des täglichen Gebrauchs außerdem ein Freibad, ein Altenheim, ein Shoppingcenter, eine Eislaufhalle, ein Jumphouse und natürlich die Bank, bei der ich angemeldet bin.

Allerdings war ich erst ganz selten in diesem Stadtteil, weshalb ich mich erst Mal nach einem Plan umsehen muss, wo steht, wo ich die Bank finde. Zum Glück hängen direkt hinter dem Bahnhof Pläne und Schilder an der Wand, auf denen auch irgendwo die Bank gekennzeichnet sein muss.

Aufmerksam studiere ich die Karte und genieße, dass es im Hintergrund ausnahmsweise mal nicht nach Bahnhof klingt. Fast niemand ist hier unterwegs, außer, wenn ein Zug gehalten hat. Deshalb filtere ich auch relativ schnell eine bekannte Stimme aus der Stille, die sich mir nähert. Keine Sekunde später spüre ich eine Hand in meiner herunterhängenden und drehe mich erschrocken um.

Vor mir steht ein kleiner Junge, den ich als den Jungen identifizieren kann, der mir geholfen hat. „Hey, du bist das. Fela oder?", frage ich und erwidere das unschuldige Lächeln des Jungen.
„Ja genau. Komm Khalid, ich muss dir jemanden zeigen", ruft er und winkt jemanden zu sich. Neugierig hebe ich den Blick und starre geradewegs in die Augen vom Pastelljackenjungen. Ich erkenne ihn sofort, auch wenn er heute einen dunklen Mantel trägt.

„Du?", frage ich sofort, weil mir sonst nichts einfällt. Vor mir steht tatsächlich der Typ, der vor mehreren Tagen so wütend verschwunden ist, weil ich mich nicht bedankt habe. Khalid - wie er zu heißen scheint - zieht die Brauen hoch und greift ohne mir zu antworten die andere Hand von Fela. „Komm, wir gehen", sagt er mit ruhiger Stimme.

Honeymilk SmellWhere stories live. Discover now