~𝑬𝒓𝒔𝒕𝒆𝒔~

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Müde lehne ich meinen Kopf gegen die kühle Scheibe des verdreckten S-Bahnfensters und schließe die Augen. Während ich leise in meinem Kopf die Melodie meines Lieblingsliedes summe, versuche ich wach zu bleiben, um meine Station nicht zu verpassen.

I was there for you in your darkest times
I was there for you in your darkest night

But I wonder, where were you?
When I was at my worst down on my knees
And you said you had my back
So I wonder, where were you?
When all the roads you took came back to me
So I'm following the map that leads to you

The map that leads to you
Ain't nothing I can do
The map that leads to you
Following, following, following to you

..."

EIn heftiges Ruckeln sorgt dafür, dass ich hochschrecke und von meinen Tagträumen erwache. Mit einem kurzen Blick stelle ich fest, dass die S-Bahn hält und Leute in Richtung Ausgang strömen. Wie von alleine stehe ich von meinem Sitz auf und taumle in Richtung Ausgang. Gerade noch rechtzeitig erreiche ich den Ausgang und springe durch die sich schon schließenden Türen.

Auf dem Bahnsteig schüttle ich erschöpft den Kopf über mich selbst. Jedes mal wenn ich S-Bahn fahre, verpasse ich fast meine Station. Meistens, weil ich so müde bin und in mehrere Sekundenschläfe falle oder weil mich meine Gedanken viel zu sehr im Griff haben. Erst einige Male in meinem Leben als tägliche S-Bahnfahrerin ist es vorgekommen, dass ich pünktlich an der Tür stand.

Abwesend laufe ich die vollgerotzten Bahnhofstreppen runter, unter den Gleisen hindurch, die Treppen auf der anderen Seite wieder hoch und weiter in Richtung Zuhause. Auch wenn die Gefahr meine Station zu verpassen nicht sehr unwahrscheinlich ist, mag ich es S-Bahn zu fahren. Zum Großteil liegt das wohl daran, dass ich so keinen langen Nachhauseweg habe, denn das Hochhaus, in dem ich mit Esperanҫa und Kamil wohne, liegt nur fünf Minuten von der Station entfernt.

Seufzend lege ich einen Zahn zu, um die grüne Ampel vor mir zu erwischen. Esperanҫa und Kamil sind meine Adoptiveltern seit dem 18. Mai vor genau fünf Jahren.

Fünf Jahre mögen je nach dem, wie man es sieht, eine lange oder kurze Zeit sein.

Für mich ist es eine kurze Zeit, denn ich vermisse meine richtigen Eltern immernoch täglich, obwohl ich zehn war, als wir voneinander getrennt wurden. Hätte der 18. Mai vor fünf Jahren nicht existiert, säße ich jetzt in meinem richtigen Zuhause und könnte mit ihnen sprechen. Aber jetzt geht das nicht mehr, denn diese eine Person musste alles kaputt machen. Alles, was wir davor aufgebaut hatten, unser ganzes Leben, unsere Beziehung und unsere Familie. Und bis heute habe ich dieser Person das nicht verziehen.

Ärgerlich krame ich nach dem Schlüssel für die Eingangstür. Eigentlich könnte ich auch klingeln, denn Esperanҫa müsste da sein, trotzdem stecke ich den Schlüssel ins Schloss, das leise klackt. Mit einem Ruck drücke ich die Tür auf und schleiche ins Treppenhaus. Eine angenehme Kühle schlägt mir sofort entgegen, die ich mit offenen Armen empfange. Draußen ist es für Anfang Herbst noch viel zu warm und auch, wenn die Temperaturen in den nächsten Tagen sinken sollen, kann ich die Hitze langsam nicht mehr genießen.

Leise laufe ich die Treppenstufen hoch und schließe unsere Haustür auf. Weil es totenstill im ganzen Haus ist, gehe ich davon aus, dass Kamil noch nicht da ist und Esperanҫa in der Küche sitzt und liest. Ohne große Geräusche zu erzeugen, schlüpfe ich durch die Tür und versuche sie lautlos wieder zu schließen.

Ich habe heute keinen Nerv dazu die traurige, verletzte und zugleich hoffnungsvolle Miene meiner Adoptivmutter zu sehen, dafür bin ich einfach zu müde. Und auch auf ihre Fragen würde ich wieder falsch reagieren, sodass sie wie jedes Mal zusammenzucken würde. Normalerweise ist mir das entweder egal oder ich werde wütend, aber heute würde ich ein Zusammentreffen liebend gerne verhindern. Ich möchte mich einfach nur alleine sein und bei dem Anblick auf Esperanҫa nicht wieder über meine Anwesenheit nachdenken.

Honeymilk SmellWhere stories live. Discover now