~𝑺𝒊𝒆𝒃𝒕𝒆𝒔~

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Als ich am Samstagmittag - Hannah hatte in den letzten Tagen abends tatsächlich Zeit, um mit mir zu essen - vom Secondhandshop mit der S-Bahn nach Hause fahre, muss ich mich wieder an den Donnerstag erinnern. Und an den Grund, weshalb ich von der Schule weggelaufen bin wie ein Feigling und daran, dass der kleine Junge mir geholfen hat.

Er war überraschend aufmerksam und gebildet für seine jungen Jahre. Er hat seine Eltern noch und wie es sich angehört hat, hat er sie lieb. Am liebsten will ich das von meiner Familie auch behaupten, aber man kann seine Eltern schlecht lieb haben, wenn man sie seit fünf Jahren nicht gesehen hat.

Dabei ist es mein größter Wunsch einmal bei ihnen zu sein. Wenigstens für einen kurzen Moment, um ein Foto zu schießen. Dann kann ich jedem zeigen, was für eine glückliche Familie wir sind. Jeder kann das. Manche haben zwar getrennte Eltern, aber immerhin haben sie die Möglichkeit sie zu sehen. Ich hab das nicht, esseidenn ich mache mich auf die Suche, was sich aber definitiv als kompliziert herausstellen würde.

Mit ziemlich großer Sicherheit sind sie zurück nach Spanien gezogen und selbst wenn sie noch in Deutschland leben würden, bestimmt nicht in dieser Stadt. Vielleicht haben sie sich sogar äußerlich verändert, sodass ich sie nicht mal mehr erkennen würde, wenn sie mir im unrealistischsten Fall über den Weg laufen. Esperanҫa müsste mit Sicherheit ein aktuelles Foto von ihnen haben. Ich habe nur ein Altes, was ich immer unter meinem Bett verstecke.

Allerdings sind fünf Jahre eine lange Zeit, sodass sie sicher anders aussehen. Wenn meine Adoptivmutter es finden würde, würde sie es bestimmt wegschmeißen. Dabei verstehe ich nicht warum. Ich verstehe nicht, warum sie so einen großen Hass auf meine Eltern hat. Und ich verstehe nicht, warum sie mich aus meiner Familie gerissen hat. Wir waren glücklich bis sie kam. Wir haben ein glückliches Leben geführt, bis Esperanҫa kam und mich aus meiner Familie gezogen hat. Seit diesem Zeitpunkt an, ist mein Leben absolut nicht mehr so, wie ich es mir vorgestellt habe.

„...achten sie beim Aussteigen auf die Höhe der Bahnsteigkante. Der Ausstieg ist auf der rechten Seite." Ich vernehme den Hinweis nur nebenbei und realisiere gar nicht, dass ich raus muss, als wir anhalten. Erst in den letzten Sekunden springe ich durch die sich schließenden Türen und stehe urplötzlich auf dem Bahnhof. Kurz frage ich mich, was ich hier mache, als mir einfällt, dass ich gerade auf dem Weg nach Hause bin.

Mit schlurfenden Schritten laufe ich den Bahnsteig entlang und unter den Gleisen der rauschenden S-Bahnen hindurch. Ich habe keine Lust auf das Wochenende. Auch wenn ich die Schule nicht mag, ist sie ein besserer Ort, als mein Zuhause. Denn am Wochenende mache ich eigentlich nichts mehr, wenn ich mittags vom Arbeiten im Secondhandshop wiederkomme.

Auch jetzt habe ich es nicht eilig nach Hause zu kommen.
Ganz im Gegenteil. Lieber schlendere ich die vom Regen benässten Bürgersteige entlang und wähle den einen oder anderen Umweg. Gestern hat der Oktober angefangen und pünktlich zum ersten Tag des neuen Monats hat sich das Wetter wieder runter gekühlt. Generell wird es im Oktober schon langsam kühler, aber mein Lieblingsmonat ist dennoch der November. Denn im November kann ich mir sicher sein, dass es nicht plötzlich wieder heiß wird und außerdem hat dann die Weihnachtszeit noch nicht begonnen.

Bis auf in den Supermärkten. Dort liegen sogar jetzt schon, Anfang Oktober, Weihnachtsmänner. Überall ist es bekannt, dass die Supermärkte in der Herbstzeit viel zu früh damit anfangen Weihnachtstimmung zu verbreiten, aber trotzdem kaufen viele Leute schon Weihnachtsgebäck. Ich bin kein Fan von der Weihnachtszeit, jedenfalls nicht von der Dekoration. Von dem Schmalzkuchen, den Eislaufhallen und dem Schnee schon.

Allerdings kann ich dieses alberne Weihnachtsmützen-Getrage gar nicht ab. Es sieht nicht schön aus und es hat auch keinen Zweck. Trotzdem provozieren uns unsere Nachbarn von dem letzten Novemberabend jeden Tag bis Weihnachten mit ihrem sentimentalen Getue. Pünktlich ab dem ersten Dezember steht vorne im Treppenhaus ein Weihnachtsbaum, der mit bunten Lichterketten geschmückt ist, und das Surren der gemeinsamen Eingangstür wird durch Jingle Bells ersetzt.

Jedes Jahr ab Dezember versuche ich deshalb so wenig wie möglich aus dem Haus zu gehen. Leider hilft es auch nicht Zuhause zu bleiben, denn einmal in der Woche wird stets an jeder Tür geklingelt und eine Kostprobe des weihnachtlichen Backens eingereicht.

Außerdem wird das Treppenhaus übertrieben aufwendig mit Weihnachtszeugs geschmückt, dass da allerdings nur für den ersten Tag hängt, denn wenn der Hausmeister das Zeug sieht, reißt er es eigenhändig ab. Er kann den Krimskrams auch nicht leiden. Leider weiß er noch nicht, dass der Weihnachtsbaum dort auch illegal steht, sonst würde er mit meinen Nachbarn bestimmt ein ernstes Wörtchen reden. Oder ihnen gleich den Hals umdrehen.

Bei uns in der Wohnung wird Weihnachten schlicht und einfach ignoriert. Wir haben keinen Weihnachtsbaum und keine Dekoration, was auch gut ist. Was die Geschenke angeht, wollen sich Kamil und Esperanҫa einfach nicht einigen. Kamil hat sich schon seit längerem mit der Einstellung abgefunden, dass ich am Heiligabend sowieso nicht aufkreuze und deshalb will er mir auch keine Geschenke kaufen, was ich ihm echt hoch anrechne. Ich brauche keine Geschenke.

Aber Esperanҫa kauft mir jedes Weihnachten etwas, obwohl ich mir nicht mal etwas wünsche. Was in den Geschenken drinnen ist, weiß ich nicht, weil ich nie nachgucke. Dabei können es eigentlich nur komische Dinge sein, schließlich reden wir eigentlich nie miteinander und ich erzähle ihr auch nichts, deshalb kann sie gar nicht wissen, was ich mag. Generell weiß sie gar nicht wer ich bin, obwohl wir schon seit fünf Jahren unter einem Dach wohnen.

Langsam komme ich vor unserem Haus an, das zum Glück noch nicht in der Weihnachtszeit versunken ist, und mich schlicht und kühl empfängt. Ich schließe oben die Tür und verschwinde wie immer gleich in meinem Zimmer.

Eigentlich hatte ich vor, mein Geld zu zählen, dass ich durch das Arbeiten beim Secondhandshop verdiene, weil ich meine hässliche pinke Wand überstreichen will, aber dafür bin ich einfach zu müde. Generell bin ich so träge, dass ich direkt einschlafen könnte, dabei habe ich heute noch nicht viel gemacht. Wahrscheinlich ist es die Aussicht auf ein langes, langweiliges Wochenende.

Ich setze mich auf mein Bett, zwinge mich aber, mich jetzt nicht hinzulegen, denn dann würde ich auch schnell einschlafen. Mein Blick fährt durch mein Zimmer. Eigentlich hatte ich nicht vor etwas zu verändern, jedenfalls solange es von dem Geld meiner Adoptiveltern finanziert wird. Aber wenn ich es selber bezahle, kann ich das gut mit meinem Gewissen ausmachen.

Nach einer Weile schnappe ich mir mein Handy und frage Hannah in einer SMS, ob ich heute wieder bei ihr Abend essen kann. Hannah ist direkt online und deshalb muss ich auch nur eine Minute auf die Antwort warten. Nachdem ein kurzes ja aufgeploppt ist, lege ich zufrieden mein Handy weg und lasse mich rückwärts auf mein Bett fallen. Gerade als mir einfällt, dass ich mich nicht hinlegen wollte, plingt mein Handy ein zweites mal. Überrascht schalte ich mein Handy frei und erkenne eine zweite Nachricht von Hannah.

Wenn du willst, kannst du jetzt schon vorbei kommen. Dann können wir uns ein Musical angucken, das ich dir unbedingt zeigen will.

Beim Lesen der kurzen SMS kann ich nicht verhindern, dass mein Herz vor Glück ein Ticken schneller klopft. Hannah will sich also wirklich mit mir treffen. Gut gelaunt packe ich meine Tasche, die ich jeden Tag trage und ziehe mir meinen olivgrünen Mantel an, den ich mir beim Secondhandshop gekauft habe. Als ich mein Fenster auf kipp stelle, damit heute noch ein bisschen frische Luft in mein Zimmer strömt, werde ich plötzlich unerwarteter Weise durch aggressives Klopfen an meiner Tür überrascht.

🌘

Huch Was ist da denn los? 😳

Mögt ihr Weihnachten? Ich glaube ich habe es mehr gemocht, als ich kleiner war.

Honeymilk SmellWo Geschichten leben. Entdecke jetzt