Kapitel 27

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Andrew hielt meine Hand und wir gingen durch die Straßen von Paris.
Es war bereits Abend und die Straßenlaternen erhellten die kühle Dunkelheit der Nacht. Trotzdem fühlte ich mich in dieser leicht unwirklich wirkenden Atmosphäre nicht unwohl. Denn alles sah wunderschön aus. Eine ganz dünne Schneedecke bedeckte die Trottoirs und aus einigen Restaurant drang gedämpftes Gelächter, wenn sich die Eingangstür öffnete.
Es war bereits Anfang Dezember und ich freute mich, dass es dieses Jahr schon so früh schneite.
"Magst du den Winter, Andrew?"
"Meinst du jetzt die Zeit um Weihnachten oder den Schnee oder alles?"
"Alles."
"Also ich mag den Winter, weil dann unter einer Schneedecke immer alles so neu aussieht. Ich mag ihn auch, weil viele Menschen glücklicher sind, als sonst. Aber ich mag ihn auch nicht, weil dann immer alles hektisch wird. Weihnachtsvorbereitungen und so."
"Aber das hat ja eigentlich nichts mit dem Winter zu tun."
"Ich dachte, du meinst alles."
"Okay, stimmt, das habe ich gesagt."
Wir lachten kurz miteinander. Und zum ersten Mal sah ich mein Leben vor mir. Eine Zukunft. Mit Andrew, der immer an meiner Seite sein würde.

Ich war froh. Und genau in dem Moment, als ich den Gedanken fertig gedacht hatte, sah ich eine Sternschnuppe über den Himmel ziehen.
Und ich dachte nicht nach, als ich mir das wünschte, was mich gerade beschäftigte.
Ich wünschte mir eine Familie.
Mit Andrew, aber auch jemand anderen. Jemand, ich war mir nicht sicher, doch dann wusste ich es auf einmal. Eine Freundin, jemand Vertrauten. So etwas wie eine mère. Ma mère.
Wir gingen schweigend weiter und es war als wäre für uns in dieser Nacht die Zeit stehen geblieben.
Wie liefen vielleicht eine Stunde durch Paris und ich zeigte Andrew meine Heimat.

Ich fand es nicht leicht, ihm alles zu zeigen. Ihm zu erklären, wo ich früher gewesen war. Meine Kindheit verbracht hatte.
Wir waren natürlich nicht beim Heim, denn wir befanden uns in einem ganz andren Stadtteil, aber ich war mir sicher, dass mich Andrew durch das, was ich ihm in dieser Nacht alles erzählte, wieder ein Stückchen besser verstand.

Und wieder einmal fragte ich mich, wie ich diesen Mann, neben dem ich jetzt die Straßen Paris durchquerte, ganze zehn Jahre nicht hatte bemerken können. Vielleicht war ich einfach noch nicht bereit dazu gewesen. Oder ich hatte zu sehr auf seine Masken geschaut, als auf sein wahres Ich. Na ja, wie hätte ich ihn auch erkennen können? Ich kannte ihn da ja noch gar nicht.
Und dann war auf einmal alles so schnell gegangen. Innerhalb von ein paar Tagen war ich zur Chefin der Finanzabteilung geworden, hatte ein Geschäftsessen mit ihm gehabt und war dann nach Paris gekommen. Es fühlte sich immer noch surreal an. Das hatte ich aber sicher schon Tausend Male erwähnt. Aber es beschäftigte mich eben.
"Andrew, wo leben deine Eltern eigentlich?"
Ich merkte wie er sich neben mir anspannte. Doch er begann zu erzählen. Ich wusste, dass ihn seine Vergangenheit genauso belastete wie meine mich und ich war mir sicher, dass es ihm auch guttun würde, mit jemandem darüber zu sprechen.
"Sie leben auf Sylt. Kennst du diese Insel an der Nordsee? Da haben sie ein Haus. Ich hätte nie gedacht, dass sie dort ihr restliches Leben verbringen würden, als sie mir gesagt haben, dass sie dort hinziehen, aber jetzt sind sie schon über sieben Jahre dort und ich denke, sie bleiben dort für immer."
"Ja, ich habe von Sylt gehört. Wann warst du das letzte Mal dort?"
"Letztes Weihnachten. Ich muss kommen. Sie wollen nicht eine von den vielen Familien werden, die es aufgegeben haben, sich zu vertragen, aber eigentlich sind wir das schon. Zerbrochen. Doch was kann ich schon machen? Ich bin schließlich der Grund aus ihrer Sicht, denn ich habe mich von ihnen losgerissen und bin zu unserem Verlag gekommen. Ich habe sie aus ihrer Sicht im Stich gelassen. So etwas ist schwer zu versöhnen. Und das ist auch noch ein Grund, warum ich Weihnachten nicht mag. Der Besuch bei meinen Eltern." Aber worauf ich mich dieses Jahr besonders freue ist mein Treffen mit Ember. Meiner Cousine. Wir wollen uns am 2. Feiertag treffen."
"Ja ich kann dich verstehen. Beide Sachen." Ich lächelte ihn an.
"Hast du Weihnachten bis jetzt immer gefeiert?"
"Nein, ich war immer...", ich schluckte einmal-zweimal, bevor ich es aussprach, "alleine."
"Wie wäre es dann mit einer neuen Tradition?"
"Was meinst du?"
"Wir können uns doch zu dritt treffen. Du Ember und ich."
"Ich weiß nicht. Ich störe doch dann eher."
"Nein, ich weiß jetzt schon, dass sie dich ins Herz schließen wird."
"Weil ich so weltoffen und freundlich bin." Ich lachte trocken."
"Hey, du bist mein Schatz und weil du meiner bist, wirst du auch ihrer sein. Wenn's nicht ist, dass ist es halt nicht, aber wir können es doch mal versuchen, oder?"
"Okay. Aber es wird nicht gleich eine Tradition!"
"Abgemacht, Ember freut sich schon."

"Warte: Du hast das schon ausgemacht? Ohne mich zu fragen?!"
"Ich wusste, dass du ja sagst. Aber sorry, dass ich dich nicht gefragt habe."
"Ich kann dir einfach nicht lange böse bleiben, aber frag mich in Zukunft bitte immer."
"Wird gemacht." Er salutierte zum Spaß.

Wir hatten heute schon einige Treffen hinter uns und ich war sehr zufrieden. Paris hatte sich voll und ganz rentiert. Zum Glück hatte ich ein paar mehr Kleidungstücke mitgenommen, denn unser kleiner ungeplanter Aufenthalt im Krankenhaus hatte uns wertvolle Tage gekostet.
Doch wir hatten schon fast alles nachgeholt. Ich fragte mich, wann wir wieder abreisen würden.
"Wann fliegen wir eigentlich wieder zurück, Andrew?"
"Übermorgen. Morgen haben wir noch ein paar letzte Treffen und dann geht's wieder ab zu Cartemnix."
"Okay, danke."

Und da bogen wir auch schon in die Straße, in der unser Hotel war, ab.
Wir hielten uns immer noch an den Händen und Andrew ließ meine nicht los, bis wir bei unserer Suite waren und Andrew mit der Schlüsselkarte aufsperren musste.
Wir gingen zusammen hinein und ich schloss gerade die Tür, als Andrew sich plötzlich zu mir herumdrehte.
Dann stützte er seine Hände neben meinem Kopf an die Tür hinter mir uns kam mit seinen Lippen ganz nah an meine.
Ich lehnte mich ihm entgegen in Erwartung eines Kusses, doch er ging wieder auf Abstand, was ihm aber sichtlich schwer zu fallen schien, und zeigte mit einem nicht ganz unbedeutenden Ausdruck im Gesicht auf das Schlafzimmer.
"Komm zu mir und de bekommst, was du willst."
"Du weißt doch gar nicht, was ich will."
"Oh doch! Das weiß ich ganz genau. Mich."

Er drehte sich um und ging auf die Schlafzimmertür zu.
Da hatte ich einen Plan.
Ich schlich mich ganz leise von hinten und hauchte ihm einen Kuss in den Nacken.
"Du willst doch wohl eher mich."
"Okay, Baby, du hast recht."

Seit wann nannte er mich Baby?!
Doch an diese Frage konnte ich mich nach zehn Minuten schon gar nicht mehr erinnern.

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