Kapitel 54

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Mein Kopf war völlig leergefegt. Was sollte ich tun? Jemandem Bescheid geben? Wem?
Was wollten diese Anette und dieser David mir eigentlich mitteilen? Dass ich mich von Andrew fernhalten sollte? Nein, das würde ich ganz bestimmt nicht.

In meiner Panik, die mich langsam überkam, sprang ich auf und tigerte durch die Wohnung.
WAS SOLLTE ICH TUN?

Ich schnappte mir meinen Laptop und gab die Namen Anette und David Wyss ein.
Sofort ploppten mehrere Einträge auf.

Nach Riesenstreit mit Sohn Andrew Carter - Investor Wyss bricht Kontakt ab!
Rieseninvestor David Wyss verliert Millionen!
David Wyss zieht nach Deutschland um!
Anette und David Wyss - harmonische Familie?

Der Überschrift des ersten Artikels nach zu urteilen, waren es wirklich Andrews Eltern, die mir hier geschrieben hatten. Doch sie waren alle schon mehrere Jahre alt. Ich wunderte mich, dass ich nie auf solche Artikel über Andrew gestoßen war, bis ich bemerkte, dass ich ihn noch nie im Zusammenhang mit seinen Eltern im Internet gesucht hatte.

Da ich wirklich überfragt war, was ich in dieser Situation tun sollte, entschied ich mich dafür, erst einmal das neue Jahr abzuwarten.
Seufzend setzte ich mich auf meine Couch. So hatte ich es mir nicht vorgestellt, meinen Baum aufzustellen.

Als ich am nächsten Morgen aufstand, war ich jedoch gar nicht mehr so schlecht drauf wie am Vorabend, denn Weihnachten brachte auch mich in eine gute Stimmung.
Ich nahm mir vor, heute Abend schön Essen zu gehen, bei einem Glas Weißwein und Kerzenschein. Doch leichter gesagt als getan, denn als ich einen Sitzplatz reservieren wollte, waren viele meiner Lieblingsrestaurants in Zürich schon ausgebucht.
Und es waren ja nicht so viele Restaurants, die ich gern mochte, denn früher war ich nur sehr selten Essen gegangen.

Irgendwann schaffte ich es dann, einen Sitzplatz in einem Italienischen Restaurant zu ergattern. Der Mann, der meinen Anruf entgegengenommen hatte, hatte schon scherzhaft gemeint, dass der letzte Platz gerade verbucht worden war, doch als er dann erfahren hatte, dass ich alleine kam, war er zwar zum Einen bestürzt gewesen und hatte dann erklärt, dass ein Platz noch frei sei. Sein "Oh no, da solo?" klang mir immer noch in den Ohren nach und ein kleiner Teil von mir fragte sich, ob ich jetzt mit Andrew Weihnachten verbringen würde, wenn wir nicht diesen bescheuerten Streit gehabt hätten.

Dieser kurze Moment, den ich an Andrew gedacht hatte, hatte schon gereicht, um mir ein Ziehen in meinem Bauch zu bescheren und so beschloss ich, mich auf die echte Bescherung heute Abend zu konzentrieren und Andrew für die nächsten zwei Wochen aus meinen Gedanken zu verbannen. Ich war mir durchaus bewusst, dass ich das nicht schaffen würde, doch vornehmen konnte ich es mir ja mal.

Und so verbrachte ich Weihnachten in der Züricher Innenstadt. Ich kaufte mir Maronis und schlenderte durch hell erleuchtete Straßen, die dadurch, dass sehr wenig Menschen unterwegs waren, still und sogar ein bisschen magisch wirkte.

Schneller als gedacht war es Abend geworden und nachdem ich mich in meiner Wohnung umgezogen und geschminkt hatte.
Ich trug ein dunkelrotes Kleid und schwarze High Heels. Obwohl das ein Klischee Weihnachtsoutfit war, gefiel es mir sehr gut, denn meine schwarzen Haare, die ich gelockt hatte, schmiegten sich um meine Schultern und passten perfekt zu meinen Schuhen.
Als im Radio, nachdem ich losgefahren war dann noch Last Christmas gespielt wurde, wusste ich nicht, wo sich meine Gefühle eher aufhielten. Bei fröhlich und weihnachtlich oder traurig und wehmütig. Denn Last Christmas war nicht gerade förderlich für mein "nicht-an-Andrew-denken" Vorhaben. 
Ich hatte ja eh gewusst, dass ich es nicht durchalten würde.
Als ich an einer roten Ampel hielt, sah ich ein Auto von der rechten Seite sehr schnell heranfahren. Doch ich war mir sicher, dass es rot hatte, denn es lief gerade eine junge Frau über die Straße, die jedoch das Auto nicht kommen sah.
Ich blickte wieder hinüber zum Auto. Es hatte seine Geschwindigkeit nicht gedrosselt.
Da würde jetzt doch kein Unfall... Ich hupte laut und lange.
Was sonst sollte ich machen? Und zuschauen wie eine junge Frau überfahren wurde - allein bei dem Gedanken wurde mir schon schlecht.

Die Frau sprang erschreckt zurück, doch es war die falsche Richtung, jetzt schaute sie zu mir. Ich fuchtelte wild mit den Armen umher und deutete auf das Auto.

Sie sah in die Richtung, in die ich zeigte und riss erschrocken die Augen auf. Das Auto hatte seine Geschwindigkeit immer noch nicht verringert. Die Frau rannte los, doch es war bereits zu spät.
Sie schaffte es nicht rechtzeitig und wurde von der Motorhaube des Autos in die Luft gerissen. Sie flog einige Meter weit und noch bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte, schnappte ich mir mein Handy und wählte den Notruf. 114 
Obwohl ich in einem totalen Panikzustand war und schon auf die Straße rannte, um der Frau zu helfen, schilderte ich der Frau am Telefon die Situation und das Gespräch endete mit "Wir sind auf dem Weg.", dann legte sie auf.

Als ich bei der Frau ankam, bewegte sie sich nicht. "Können Sie mich hören?", fragte ich sie.
Sie rührte sich nicht. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte und als ich mich umdrehte, um nach dem Auto zu sehen, konnte ich nur noch zwei kleine Rücklichter in der Ferne sehen. 
"Hilfe!", schrie ich laut.
Doch es war weit und breit niemand zu sehen.
"HILFE!!", schrie ich lauter.
Dann fühlte ich ihren Puls und spürte etwas, doch in meiner Aufregung war ich mir nicht sicher, ob ich richtig lag. Ich fragte nochmal: "Können Sie mich hören?"
Ich rüttelte leicht an ihrer Schulter. Auf einmal hörte ich ein leises Stöhnen.
"Wa-as ist pas -passiert?"
"Sie hatten einen Unfall. Bleiben Sie ruhig. Der Notdienst ist schon auf dem Weg."
Sie wollte etwas erwidern, doch dazu fehlte ihr scheinbar die Kraft, denn sie schloss ihre Augen wieder und blieb still.
Dann hörte ich in der Ferne Sirenen und mich erfasste eine so große Erleichterung wie ich sie selten in meinem Leben gespürt hatte. Tatsächlich noch nie. 

Der Krankenwagen hielt neben uns und vier Männer sprangen mit einer Trage heraus. Dann ging alles ganz schnell und als ich das nächste Mal tief Luft holte, brauste der Krankenwagen davon und ich stand neben einem Polizisten, der mich danach fragte wie der Unfall geschehen war.





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