Kapitel 57 - Zu weit gegangen

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„Mein Leben war nie vom Glück gesegnet. Ich erwarte jetzt auch kein Mitleid von dir. Unsere Familie stammt seit jeher von der Göttin der Luft ab. Sie stattete uns mit zusätzlichen Gaben aus, nahm uns aber im Gegenzug die Möglichkeit, dauerhaft glücklich zu sein. Ich war dumm genug zu glauben, ich könnte meine Töchter davor bewahren, wenn ich sie weggab. Damit war der Schaden angerichtet und ich würde es nicht rückgängig machen können. Deswegen täuschte ich meinen Tod vor, verpasste mir eine neue Identität, ein neues Aussehen und tauchte unter. Als Elara und Helen auf die Akademie kamen, kehrte ich zurück und nahm die Stelle der Bibliothekarin an. So konnte ich meinen Töchtern nah sein, aber gleichzeitig waren sie ferner denn je. Als Helen verschwand endschied ich mich dafür, hier zu bleiben, denn ich wusste, dass sie irgendwann zurückkehren würde. Ob freiwillig oder nicht. Doch dass sie mit meiner Enkelin kommen würde, hatte ich nicht erwartet." Sie lächelte, während ich jedes Wort aufsaugte und zu begreifen versuchte.

„Im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass Elara mächtiger war, als jedes Mitglied unserer Familie bisher. Umso stärker war sie jedoch dazu verdammt, unglücklich zu sein. Es machte mich traurig zu sehen, wie sie sich wandelte und ihre Gefühle einfror. Sie liebt diesen Wächter seit Jahren, hat es aber abgestritten. Bis du gekommen bist. Du hast meiner Tochter das Glück gegeben, das sie dringend nötig hatte und dafür muss ich dir danken."

„Nun ja", setzte ich zögerlich an, ganz benommen von der Fülle an Informationen. „Mir kommt es eher vor, als hätte ich alles in gewissem Maße schlimmer gemacht."

„Nein, das stimmt nicht. Du bist bloß zwischen die Fronten geraten."

„Was ist mit diesen besonderen Gaben?", platzte ich mit der nächstbesten Frage heraus, die mir durch den Kopf ging.

„Du musst wissen, dass sie nicht immer offensichtlich sind. Wie bei mir und deiner Mutter zum Beispiel. Sie hat die Fähigkeit, beruhigend auf andere einzuwirken. Zu ihnen durchzudringen, selbst wenn sie vor Wut nichts mehr wahrnehmen."

Wie bei Elara im Speisessaal, dachte ich und lauschte meiner Großmutter.

„Ich sehe Dinge. Ausschnitte aus Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart, die aber oft keinen Sinn ergeben." Sie lachte auf. „Bei Elara dürfte dir wohl klar sein, was es ist: die Fähigkeit, das Element Wasser zu beherrschen. Was deine Gabe angeht, wirst du dich wohl überraschen lassen müssen."

Als sie bemerkte, dass ich nichts mehr sagte, trat ein gutmütiger Ausdruck in ihre Augen. „Du solltest jetzt gehen. Es ist bald Nachtruhe und ich glaube, du hast genug, worüber du nachdenken kannst." Schon war sie wieder auf den Beinen und am Eingang.

„Ja. Ja klar"; murmelte ich benebelt und trottete ihr hinterher. Hinaus auf die Galerie und hinunter in die Bibliothek. Mein Kopf schwirrte.

„Bewahre dieses Geheimnis gut", raunte sie mir zum Abschied ins Ohr und war schon zwischen den Regalen verschwunden.

*****

„Ich habe eine Großmutter." Wie in Trance murmelte ich diesen Satz immer wieder, als ich am nächsten Morgen auf dem Weg zum Frühstück war. Gestern Abend hatte mein überfordertes Gehirn einfach nicht mehr die Kraft gehabt, diese Tatsache vollständig zu verarbeiten und ich war einfach eingeschlafen. Jetzt ging ich in Gedanken noch einmal alles durch, was ich erfahren hatte, bis die Lautstärke der anderen Schüler es einem schier unmöglich machte, auch nur seine eigenen Gedanken zu hören.

„Was ist denn jetzt schon wieder los?", murmelte ich genervt und entdeckte im selben Augenblick das hellblaue Papier an der Tafel zum Speisessaal.

Die Farbe der Hexe.

Eine neue Ankündigung. Ich seufzte entnervt und wartete, bis die Traube davor sich halbwegs aufgelöst hatte, bevor ich mich für die Nachricht wappnete. Die Gesprächsfetzen, die an mein Ohr drangen, klangen sehr unheilverkündend, doch einen Sinn konnte ich ihnen nicht entnehmen.

Academy for Elementarys 1 - Verborgene KräfteWhere stories live. Discover now