Kapitel 2 - und zweitens als man denkt

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Draußen schien noch immer die Sonne. Die Luft war frisch und warm, es roch nach gemähtem Gras. Ich nahm einen tiefen Atemzug, hieß die Wärme auf meiner Haut willkommen und wollte meinen Augen kaum trauen, als sich vor uns ein imposantes altes Steingebäude in den blauen Himmel erhob. Efeu rankte grün und üppig an den Wänden empor, dunkles Holz umrahmte die hohen Fenster.

„Wo sind wir?", fragte ich staunend.

„In Kanada", antwortete James. „In der Nähe von Ottawa. Das ist das Hauptgebäude der Akademie. Dort findet der Unterricht statt. Im Erdgeschoss befindet sich außerdem der Speisesaal. Die Klassenräume sowie das Lehrerzimmer und Direktorin Freys Büro sind im ersten Stock untergebracht. Die Schlafzimmer der Schüler und Schülerinnen befinden sich in der zweiten und dritten Etage." Er steuerte die mindestens vier Meter hohe Eingangspforte an, die mit einem metallenen Türklopfer versehen war. Ein Löwenkopf, wenn ich mich nicht irrte. Staunend betrat ich eine riesige Eingangshalle, die rundherum mit lebensgroßen Statuen gesäumt war. Geradezu führte eine breite Treppe in den nächsten Stock.

„Es gibt auf dem Gelände außerdem eine Bibliothek, die zu bestimmten Öffnungszeiten frei zugänglich ist sowie eine Turnhalle inklusive Schwimmbecken für den Sportunterricht und das Kampftraining."

„Kampftraining? Das war ein Scherz oder?" Diesmal war das Schmunzeln auf seinem Gesicht echt und es machte ihn von einem ernsten zu einem ziemlich gut aussehenden Mann, wie ich nebenbei bemerkte, ehe mein Entsetzen die Überhand gewann.

„Keine Sorge, das klingt schlimmer als es ist."

„Ha, das glaube ich erst, wenn ich es sehe."

„Das wirst du früh genug." Nicht die Antwort, die ich hatte hören wollen.

„Im Moment ist bis auf die Lehrkräfte und Wächter niemand hier", fuhr er fort und stieg die Treppe hinauf. „Die Schüler reisen erst in Kürze an. Um halb sieben gibt es Abendessen und ab um zehn ist Nachtruhe. Das heißt, niemandem ist es erlaubt, sein Zimmer zu verlassen. Ich empfehle dir, dich daran zu halten. Es könnte sonst sehr ungemütlich werden und mit Direktorin Frey ist nicht gut Kirschen essen, wenn es um Regelverstöße geht."

Ja, das konnte ich mir lebhaft vorstellen. Über weitere Treppen und Gänge, die mich an ein altes Herrenhaus erinnerten, gelangten wir schließlich zu einer holzverkleideten Tür. Davor blieb James stehen, schloss sie auf und überließ mir den Vortritt.

„Das ist ab heute dein Zimmer." Er reichte mir den Schlüssel. „Alles, was du brauchst, ist bereits hier. Ruh dich aus und mach dich frisch. Wir sehen uns." Ein freundliches Nicken später war ich allein. Allein in einem Raum, der meine kühnsten Vorstellungen übertraf und größer war als jedes Schlafzimmer, das ich bisher bewohnt hatte. Die hohe Decke war mit einer Lampe geschmückt, die Ähnlichkeiten mit einem Kronleuchter besaß. Die Möbel waren aus dunklem Holz und alles wirkte ein wenig urig. Doch es gefiel mir ausgesprochen gut. Neugierig inspizierte ich jede Ecke, öffnete den Kleiderschrank und stellte ungläubig fest, dass all meine Kleidung, die ich besaß ordentlich einsortiert war. Sie mussten sie aus der Wohnung mitgenommen haben als ich ohnmächtig gewesen war. Schließlich ließ ich mich auf das weiche Bett sinken und strich mit den Fingern über die Bettwäsche. Dieser Tag schien an mir vorbeigerauscht zu sein. Alles war verschwommen und viel zu schnell passiert. Ich seufzte tief. Ab jetzt würde sich mein ganzes Leben ändern. Das spürte ich deutlich. Zwar wollte ich nicht glauben, dass ich spezielle Kräfte hatte, doch der fast tote Wächter bewies klar das Gegenteil. Wie sonst hätte er durch die Luft fliegen können, wenn nicht durch Magie? Beim Gedanken an den Mann stieg Übelkeit in mir auf. Ich hatte einen Menschen verletzt. Schwer verletzt. Angeblich.

Um mich abzulenken, tigerte ich weiter durch den Raum, untersuchte das kleine aber modern ausgestattete Badezimmer, wusch mir mit kaltem Wasser das Gesicht und trank die ganze Wasserflasche leer, die auf dem Nachttisch stand. Mein Blick fiel auf meine Tasche. Hastig riss ich sie auf und kramte nach meinem Handy. Das Display verriet mir, dass ich bis zum Abendessen noch zwei Stunden Zeit hatte. Der Empfang war gut, ich hatte sogar Internet, wenn auch eher dürftig. Noch auf dem Boden sitzend, öffnete ich Google und gab Begriffe wie Magie, vier Essenzen, Elementarys und Akademie Kanada ein, doch was ich fand, waren ausschließlich Einträge zu mythologischen Sagengestalten und Legenden. Wenig hilfreich. Schnell gab ich es auf, legte das Handy beiseite und lehnte meinen Kopf an den Nachttisch. In Gedanken ließ ich das Gespräch mit Direktorin Frey Revue passieren. Wiederholte, was sie gesagt hatte und was sich daraus ergab. Es gefiel mir nicht. Es gefiel mir absolut nicht, denn es bedeutete, dass meine Mutter mich belogen hatte. Mein Leben lang. Dass die Umzüge in Wahrheit der Flucht dienten. Der Flucht vor was genau? Elara Frey? Der Magie? Die Kopfschmerzen meldeten sich mit einem Stechen zurück und ich vergrub stöhnend das Gesicht in den Händen. Ich wollte wütend sein. Auf meine Mum, auf diesen James, auf die Direktorin, aber alles, was ich verspürte waren Resignation und Müdigkeit. Also blieb ich, wo ich war, zog die Knie an die Brust und schloss die Augen. Solange bis der harte Parkettboden mir zu ungemütlich wurde und ich auf den Schreibtischstuhl umzog. Gedankenverloren griff ich mir ein Blatt Papier und einen Bleistift und begann zu zeichnen. Strich um Strich, Schatten um Schatten entstand vor meiner Nase das Gesicht einer Frau mit hohen Wangenknochen und einem kühlen Lächeln auf den schmalen Lippen. Jap, Elara Frey hatte definitiv Eindruck hinterlassen. Als ich draußen vermehrt Stimmen und Gelächter vernahm, prüfte ich die Zeit. Gleich halb sieben. Abendessen. Schlagartig wurde ich wieder nervös.

Academy for Elementarys 1 - Verborgene KräfteWhere stories live. Discover now