Kapitel 26 - Warum sie?!

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Und dann brach die erste Schulwoche an. Ich fiel Will stürmisch um den Hals, sobald er auch nur einen Schritt auf das Schulgelände gesetzt hatte und er zog mich in eine sanfte Umarmung.

„Ich habe dich vermisst", flüsterte ich und sog seinen Duft ein.

„Ich dich auch."

Mit diesen Worten bekam ich endlich einen heißersehnten Kuss, der mich hinauf in den Himmel katapultierte. Die Landung hingegen war äußerst schmerzhaft, denn Mara zerstörte den Moment vollkommen ungeniert.

„Hey, ihr zwei Turteltauben! Wenn ihr fertig seid, könntet ihr so gütig sein und den Weg freimachen?"

„Ups", kicherte ich peinlich berührt, löste mich von Will und trat zur Seite, um die anderen Schüler durchzulassen. Ashley warf mir im Vorbeigehen einen giftigen Blick zu, den ich einfach an mir abprallen ließ, wie Regen an einer Scheibe. Nachdem ich dann Mara ausführlich begrüßt hatte, schlenderten wir gemeinsam in die Akademie, um uns für den Unterricht fertig zu machen. Da der erste Schultag war, begann er glücklicher Weise erst zur vierten Stunde und das war bei mir Kampftraining. Eigentlich hätte ich Mara liebend gern von den Ereignissen an Silvester erzählt, doch da ich nicht wollte, dass es gleich die gesamte Schule wusste, musste ich abwarten, denn die Umkleide war eindeutig der falsche Ort für Geheimnisaustausch.
Während wir uns umzogen, erzählte Mara mir unter vollem Körpereinsatz von ihren Ferien und ich musste mich zusammenreißen, um nicht loszuprusten.

„Spar dir deine Energie für den Unterricht", kicherte ich und band meine Haare zu einem Zopf.
„Du hast ja recht. Ich bin wahrscheinlich völlig außer Form. Du musst wissen, meine Eltern haben mich mit Essen zugeschüttet. Ich hatte keine Chance abzulehnen."

Lachend betraten wir die Turnhalle und die Qual begann. Zwischenzeitig ließ Derek uns allein und als er wiederkam, wirkte er unruhig. Mit schnellen Schritten kam er auf mich zu. 

„Hannah? Direktorin Frey verlangt nach dir. Es geht um deine Mutter." Der Kampflehrer klang angespannt und sofort ballte sich ein Klumpen in meinem Magen zusammen.

„Was ist mit ihr? Ist ihr etwas zugestoßen?" Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme eine Oktave in die Höhe kletterte.

„Sie wurde angegriffen." Ein Rauschen setzte ein und ich ließ mein Trainingsschwert fallen. Das durfte nicht passiert sein.

„Wo ist sie?"

„Im Krankenflügel."

Und schon rannte ich los. Tränen verschleierten meinen Blick, als ich über den Campus stürmte. Tausend verschiedene Gefühle drohten, mich zu überwältigen und ich schnappte nach Luft. Wieso meine Mum? Wieso sie? Immer wieder kehrte diese Frage zurück und immer wieder verdrängte ich sie. Bevor ich mich damit auseinandersetzten konnte, musste ich wissen, wie es ihr ging.
Meine Beine schmerzten, als ich die lange Treppe hinaufrannte und endlich das Krankenflügel erreichte. Die Tür war nur angelehnt. Mit pochendem Herzen riss ich sie auf und sah mich um. Der geräumige Raum war leer, bis auf ein Bett im hinteren Teil.

„Mum!", rief ich angstvoll und jemand richtete sich erschrocken auf.

„Hannah", sagte Elara Frey ungewohnt sanft und ich stutzte. Die Direktorin wirkte erschöpft, ihre Augen waren gerötet, so als ... nein, das konnte nicht sein. Aber es sah ganz danach aus, als hätte sie geweint. 

„Was ist mit ihr?", fragte ich mit zitternder Stimme und kämpfte die Angst nieder, die in mir aufstieg, als mein Blick auf meine Mum fiel. Blass und mit geschlossenen Augen lag sie in dem Bett und schien regelrecht darin zu versinken. Sie war an mehrere Geräte angebunden, die leise piepten.

„Jemand hat ihr die Magie entzogen. Genau, wie bei den anderen, aber diesmal scheint es schlimmer zu sein", erklärte Direktorin Frey leise und stockte. Das durfte nicht wahr sein. Erst Mara und jetzt sie. Ich musste einfach träumen.

„Kneifen Sie mich", verlangte ich und die Direktorin runzelte die Stirn.

„Kneifen Sie mich", wiederholte ich. „Das ist alles nur ein Traum."

„Es ist kein Traum, Hannah. Auch, wenn ich es mir wünschen würde."

„Doch, es muss ein Traum sein", schniefte ich und konnte nicht verhindern, dass mir wieder die Tränen in die Augen schossen. Meine Mum so zu sehen, zerriss mir das Herz. Akzeptieren zu müssen, dass sie keine Magie mehr besaß, dass sie keine von uns mehr war, ließ meine Tränen nur noch schneller laufen. Und plötzlich befand ich mich in einer Umarmung wieder. Ich erstarrte, als die Direktorin mich in den Arm nahm, doch der Duft ihres Parfüms erinnerte mich so stark an meine Mum, dass ich es geschehen ließ. Meine Tränen saugten sich in ihre wunderschöne, weinrote Bluse und hinterließen hässliche Flecken darauf. So standen wir schweigend da, bis ein schrilles Piepen ertönte und wir erschrocken auseinander fuhren.
„Verdammt!", fluchte Direktorin Frey und Panik klang in ihrer Stimme mit. Mein Blick zuckte zu dem Herzmonitor. Eine waagerechte Linie lief über den Bildschirm.
Und dann ging alles ganz schnell. Einige der Ärzte, die ich auch schon bei vorherigen Fällen kennengelernt hatte, kamen hereingestürmt.

„Mrs. Frey, schaffen Sie das Mädchen hier raus!", befahl einer der Ärzte und es war das erste Mal, dass Elara Frey einen Befehl von jemandem ohne zu zögern ausführte. Sie griff nach meinem Arm, aber ich riss mich los. Ich würde nicht gehen.

„Hannah!", stieß sie hervor.

„Nein!" Ich musste bei meiner Mum bleiben. Ich musste einfach.

„Hannah, bitte."

„Nein!"

Dann verloren meine Füße den Halt zum Boden und ich wurde einige Zentimeter in die Luft gehoben. Bevor mein verwirrtes Hirn begriff, was geschah, schwebte ich aus dem Zimmer. Hinter der Direktorin fiel die Tür ins Schloss und sie ließ ihre Hände sinken, sodass ich wieder festen Boden spüren konnte. Sofort stürzte ich zur Tür und rüttelte wie verrückt an der Klinke.

„Mum!", schrie ich verzweifelt. „Lassen Sie mich da rein!", fuhr ich meine Direktorin an, die ihre Lippen fest aufeinander presste und entschieden den Kopf schüttelte.
Schließlich gab ich es auf und ließ mich zu Boden sinken. Alles in mir war wie erstarrt. Wenn meine Mum starb, dann ... Ich wollte nicht daran denken.

„Wird sie ... wird sie es schaffen?", fragte ich und merkte selbst, wie kläglich ich klang.

„Das wird sie", erwiderte die Direktorin fest und ich hob den Kopf. Jetzt erst fiel mir auf, wie schlecht sie aussah. Ihr Gesicht war grau vor Erschöpfung, ihre perfekte Frisur ziemlich durcheinander und ihre Bluse durch meine Tränen verunstaltet.

„Sie wird es schaffen. Helen ist stark. Vielleicht sogar stärker, als ich es je war." Den letzten Satz hörte ich schon fast nicht mehr, so leise war ihre Stimme geworden. Die Schuld in ihren Augen war unübersehbar.

„Vielleicht ist es an der Zeit, meiner Mum zu verzeihen", flüsterte ich und sie rieb sich die Schläfen, als hätte sie Kopfschmerzen.

„Ja, vielleicht."

Academy for Elementarys 1 - Verborgene KräfteWhere stories live. Discover now