Morgenwind - die fliegende St...

By dell_a_story

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Die 25-jährige Emma arbeitet in einer Boutique, kümmert sich um ihre kranke Mutter und hat die Hoffnung auf e... More

1. Späte Kundschaft [1]
1. Späte Kundschaft [2]
2. Oben
3. Jäger in der Nacht [1]
3. Jäger in der Nacht [2]
4. Neue Freunde, alte Feinde [2]
5. Das Mädchen und der Dämon
6. Die Legende der Morgenwind
7. Die Prinzessin [1]
7. Die Prinzessin [2]
8. In den Untergrund
9. Die Last der Verantwortung [1]
9. Die Last der Verantwortung [2]
10. Freundinnen [1]
10. Freundinnen [2]
11. Der Tod und die Morgenwind
12. Mein Lehrer, der Werwolf [1]
12. Mein Lehrer, der Werwolf [2]
13. E-Doppel-M-A [1]
13. E-Doppel-M-A [2]
14. Die dämonische Kränkung [1]
14. Die dämonische Kränkung [2]
15. Das Lebkuchenhaus [1]
15. Das Lebkuchenhaus [2]
16. Familienbande
17. Ein Date mit dem Baron
18. Das Lichterfest [1]
18. Das Lichterfest [2]
19. Wasser
20. Feuer
21. In Ungnade gefallen [1]
21. In Ungnade gefallen [2]
22. Über den Regenbogen [1]
22. Über den Regenbogen [2]
23. Plutos [1]
23. Plutos [2]
24. General Orel Erelis [1]
24. General Orel Erelis [2]
25. Der Untergang der Morgenwind
26. Kriegsopfer
27. Der Einäscherer [1]
27. Der Einäscherer [2]
28. Schlaflos [1]
28. Schlaflos [2]
29. Die Bestimmung [1]
29. Die Bestimmung [2]
30. Noblesse oblige [1]
30. Noblesse oblige [2]
31. Die Zukunft der Morgenwind [1]
31. Die Zukunft der Morgenwind [2]

4. Neue Freunde, alte Feinde [1]

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By dell_a_story

Dieses Mal war es mitten am Tag, als Emma im Burgfräulein-Zimmer aus dem Schlaf schreckte. Wie im Zerrspiegel hatte sie die Ereignisse der vergangenen Nacht im Traum noch einmal durchleben müssen.

Vorsichtig streckte sie die gedanklichen Fühler nach ihrem Rücken aus, um herauszufinden, wie es um ihre Verletzungen bestellt war. Wundersamerweise war der Schmerz fast vollständig verschwunden. Nur, wenn sie sich bewegte, konnte sie ihn noch spüren, ein dumpfes Pochen direkt hinter ihrer Lunge.

Ein schüchternes »Hallo« ließ sie ihren Rücken für einen Moment vergessen. Titus stand in der Tür. Sein vorwurfsvoller Blick weckte ihre noch schlummernden Schuldgefühle.

»Es tut mir leid, wenn ich dich in Schwierigkeiten gebracht habe«, beteuerte sie. »Das war nicht meine Absicht.«

Titus antwortete nicht, sondern starrte sie nur an. Aus seinem Gesicht sprach bodenlose Enttäuschung.

Emma nahm an, dass Miragel auf die Nachricht ihres Verschwindens nicht sehr erfreut reagiert hatte. Sie hoffte nur, dass Titus keinen allzu großen Ärger bekommen hatte. Schließlich war es in keiner Weise seine Schuld, dass sie aus dem Fenster geklettert und geflohen war.

Vorsichtig schlug Emma die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Während sie geschlafen hatte, musste sich irgendjemand an ihren Kleidern zu schaffen gemacht haben. Jedenfalls trug sie nun ein langes, über und über mit Rüschen und Schleifen verziertes Nachthemd. Von ihrer Jeans und ihrer Bluse fehlte jede Spur.

»Wo ist Kilian?«, fragte Emma, da ihr das bedrückende Schweigen unangenehm wurde.

»Auf seinem Zimmer«, antwortete Titus. »Herr Kilian muss sich ausruhen. Der Schneidende zehrt an seinen Kräften. Außerdem hat er die halbe Nacht nach dir gesucht.«

Emma entging die Spitze in Titus' Worten nicht. »Der Schneidende? Ist das sein Schwert?«

Titus nickte, schien aber nicht gewillt, Emma mehr darüber zu erzählen.

»Und was ist mit Kamilla?«, fragte sie weiter.

»Sie muss sich ebenfalls noch ausruhen«, antwortete Titus. »Auf den vier Kindern des Barons lastet eine große Bürde.«

Die Worte klangen auswendig gelernt, doch noch bevor Emma weitere Fragen stellen konnte, betrat Miragel das Zimmer. Wie gestern trug er eine schlichte, aber elegante Robe. Heute bestand sie aus dunkelgrauem Stoff und war mit feinen, silbernen Stickereien verziert. Seine langen, schneeweißen Haare waren zu einem strengen Zopf geflochten, der den Blick auf zwei spitz zulaufende Ohren freigab. »Ich sehe, unser Burgfräulein ist aufgewacht«, bemerkte er spöttisch.

»Habe ich etwas verpasst?«, fragte Emma. Mit der Frage schien sie Miragel etwas den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Nein«, antwortete er nach kurzem Zögern. »Jedenfalls nichts, das einer Erwähnung bedürfte.« Er trat näher ans Bett und musterte Emma eingehend. »Es bereitet mir keine Freude das zu tun, aber Herr Kilian hat mir aufgetragen, mich nach Eurem Befinden zu erkundigen.«

»Ich bin in Ordnung«, sagte Emma schnell. Es gefiel ihr nicht, so angestarrt zu werden. Schon gar nicht von Miragel. »Wirklich. Mein Rücken tut kaum noch weh.«

»Ihr hattet wirklich großes Glück«, sagte Miragel. »Ein paar Meter weiter und Ihr wärt in den Abgrund gestürzt. Dann hätte Euch niemand mehr retten können. Nicht einmal Herr Kilian.«

Emma schloss die Augen und atmete tief durch. Sie war es leid, sich zu rechtfertigen. »Es tut mir leid«, erklärte sie zähneknirschend. »Aber ich bin es nicht gewohnt, eingesperrt und wie eine Gefangene behandelt zu werden.« Sie öffnete die Augen und blickte Miragel fest ins Gesicht. »Außerdem will ich so schnell wie möglich nach Hause.«

Miragel hielt ihrem Blick stand. »Das wird nicht möglich sein«, sagte er ernst. »Und, glaubt mir, wenn es das wäre, hätte ich Euch schon längst persönlich wieder dorthin zurückgebracht, wo Ihr herkommt.«

»Und wieso ist es nicht möglich?«, knurrte Emma. Sie wollte sich auf keinen Fall mit irgendwelchen fadenscheinigen Ausreden abspeisen lassen.

»Das sollte Euch Herr Kilian erklären«, erwiderte Miragel und wandte sich prompt zum Gehen.

»Halt!«, rief Emma und schwang sich aus dem Bett. Ein scharfer Schmerz schoss durch ihr Rückgrat und sie musste die Hand nach einem der vier Bettpfosten ausstrecken, um sich auf den Beinen zu halten. »Ich will es aber jetzt wissen! Das sind Sie mir schuldig.«

Miragel blieb in der Tür stehen und maß Emma mit einem herablassenden Blick. »Ich schulde dir überhaupt nichts, Menschenfrau.«

Damit hatte er vermutlich Recht, aber Emma wollte auf keinen Fall ohne Antworten zurückgelassen werden. »Bitte«, flehte sie. »Sagen Sie mir, weshalb ich nicht nach Hause kann.«

»Es sind die Megamon«, platzte Titus heraus. »Herr Kilian sagte, du hättest Kamilla und den Anderen geholfen. Das werden die Megamon nicht vergessen. Wenn sie die Gelegenheit bekommen, werden sie dich jagen und töten. Dich und alle, die dir nahe stehen.«

Emma öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch alle Worte schienen aus ihrem Kopf geflohen zu sein. Sie klappte den Mund wieder zu und ließ sich aufs Bett zurücksinken. Mit dieser Antwort hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Die Megamon waren hinter ihr her. Dabei hatte sie schon geglaubt, sich diese schrecklichen Geschöpfe nur eingebildet zu haben.

»Titus«, grollte Miragel und deutete mit einer strengen Geste zur Tür hinaus. Doch seine Augen leuchteten, als würde er sich insgeheim darüber freuen, dass man ihr die Wahrheit so schonungslos aufgetischt hatte. Titus zog den Kopf zwischen die Schultern und trottete davon. »Macht Euch nicht zu große Sorgen«, meinte Miragel, nachdem Titus gegangen war. »Hier seid Ihr sicher, jedenfalls vor den Megamon.« Mit diesen Worten zog er die Tür hinter sich zu.

Emma starrte auf den Boden vor ihren Füßen. Ihre Hoffnung, aus diesem Albtraum schnell wieder erwachen zu können, hatte sich in Luft aufgelöst. Sie war in dieser verrückten Welt gefangen, zusammen mit Baronen, Elfen, riesigen Wölfen, geflügelten Menschen und vermutlich noch einer ganzen Reihe anderer Absurditäten. Anscheinend gab es nichts, was sie dagegen tun konnte.

Sie atmete tief ein und aus. Gleichzeitig versuchte sie in ihrem Innern die Kraft aufzubringen, die sie in nächster Zeit benötigen würde. Wenn es schon kein Entkommen gab, dann wollte sie zumindest wissen, womit sie es zu tun hatte.

Mit einem Ruck, der ein schmerzhaftes Ziehen durch ihren Rücken sandte, richtete sie sich auf und ging zur Tür. Die Tür war nicht abgeschlossen. Emma zwang sich zu einem Lächeln, dann öffnete sie die Tür und trat in den dahinterliegenden Gang hinaus.



*



Emma bemühte sich, kein Geräusch zu verursachen, während sie durch die Gänge und Zimmer des Schlosses schlich. Das Gebäude schien weitgehend verlassen zu sein. Nur manchmal konnte sie eine Stimme oder ein Geräusch vernehmen, das darauf hindeutete, dass sie nicht ganz alleine war. Sie fragte sich, ob Kilian und seine Geschwister keine Diener oder Angestellten hatten, von Titus, Miragel und den zwei Wachen am Tor mal abgesehen. Die Küche sah noch genauso aus wie am vorhergehenden Tag. Anscheinend hatte sich niemand die Mühe gemacht, etwas zu kochen.

Emma nahm ein Stück Brot aus dem Korb und stopfte es sich in den Mund. Dann setzte sie ihren Weg fort, wanderte durch den verstaubten Speisesaal, die Bibliothek und zwei Arbeitszimmer, von denen das Eine im Chaos versank, während das Andere sehr ordentlich war und ungenutzt zu sein schien. Überall an den Wänden hingen die Gemälde irgendwelcher Adeligen mit prunkvollen Gewändern und missmutigen Gesichtern. Auf einem der Bilder war ein Mann abgebildet, dessen Ohren ganz ähnlich geformt waren wie die von Miragel. Emma studierte sein Gesicht, konnte aber ansonsten keine Ähnlichkeit zwischen ihm und Miragel oder Kilian feststellen.

Auf einmal klopfte es von innen an die Tür. Emma fuhr herum. Im Türrahmen standen zwei Männer. Einer von ihnen kam ihr vage bekannt vor. Sie glaubte, ihn am gestrigen Abend gesehen zu haben. Er hatte sie und Kilian über die Klippe gezogen.

»Hallo. Du musst Emma sein«, sagte der andere Mann. Im Vergleich zu seinem Begleiter, einem dunkelhäutigen Hünen, war dieser Mann eher schmächtig gebaut. Er hatte zottelige braune Haare, einen Ziegenbart und außergewöhnlich dichte Wimpern, die zwei sanfte, goldbraune Augen einrahmten.

»Ja, das bin ich«, antwortete Emma und bemühte sich, so unverdächtig wie möglich auszusehen. Es musste ja niemand wissen, dass sie sich erneut ohne Erlaubnis aus ihrem Zimmer geschlichen hatte.

Der Mann lächelte unsicher, machte einen Schritt in den Raum und faltete die Hände vor dem Körper. »Mein Name ist Laurent. Wir sind uns schon einmal begegnet, aber daran kannst du dich vermutlich nicht erinnern. Um ehrlich zu sein, ist das auch der Grund, aus dem ich zum Schloss gekommen bin.« Er seufzte schwer und ergänzte: »Ich befürchte, ich muss mich bei dir entschuldigen.«

»Entschuldigen? Wofür denn?«, fragte Emma verwundert. Laurent hatte Recht. Sie hatte keine Ahnung, wer er war - oder was er getan hatte. Seine gequälte Miene ließ sie jedoch vermuten, dass er etwas Schreckliches verbrochen haben musste.

Der Dunkelhäutige trat hinter Laurent und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er hatte ein grobes, aber nicht unattraktives Gesicht und trug eine verspiegelte Brille. Sie glaubte, sich daran zu erinnern, dass er Joseph genannt wurde.

»Nun, es ist nicht so ganz einfach zu erklären«, meinte Laurent zögernd. »Weißt du, ich ... ich bin ein Gestaltwandler.«

Emma wollte protestieren, konnte sich aber gerade noch davon abhalten. Nach allem, was sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte, war die Existenz von Gestaltwandlern eigentlich keine große Überraschung mehr. Sie aktivierte ihr Wissen aus den Tagen, an denen sie die Twilight-Bücher verschlungen hatte. »Du meinst, so etwas wie ein Werwolf?«

Laurents Miene erhellte sich. »Exakt!« Er warf seinem Begleiter einen Ich-hab-es-dir-doch-gesagt-Blick zu, aber Emma war noch nicht bereit, diese Neuigkeit einfach so hinzunehmen.

»Du bist also ein Werwolf?«, hakte sie nach.

Laurent nickte zustimmend.

»Das heißt, du verwandelst dich bei Vollmond in einen-«

»In einen Wolf, ja«, vervollständigte Laurent lächelnd.

Plötzlich ging Emma ein Licht auf. »Du!«, rief sie. »Dann bist du der Wolf, der mich verfolgt hat.«

Laurents Miene verfinsterte sich wieder. Es wirkte, als habe sie ihm eine schallende Ohrfeige verpasst.

Emma empfand jedoch nur wenig Mitleid. Immerhin hatte er sie in der vergangenen Nacht gnadenlos gehetzt und ihr einen furchtbaren Schrecken eingejagt.

»Es tut mir leid«, meinte er kläglich.

»Es ist nicht seine Schuld«, erklärte Joseph. Er sprach sehr laut und langsam. Emma fragte sich, ob er irgendeine Form von Behinderung hatte, traute sich aber nicht, ihn direkt danach zu fragen. »Jemand hat vergessen, seine Tür abzuschließen.«

»Vergessen?«, keuchte Emma.

»Die Kinder hätten das niemals vergessen«, sagte Laurent mit gesenkter Stimme.

Joseph zuckte mit den Schultern. »Kinder machen Fehler.«

»Du hättest mich also umbringen können?«, fragte Emma und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da hörte. Anscheinend war sie dem Tod in der gestrigen Nacht gleich mehrfach knapp von der Schippe gesprungen. An die Episode mit Rasputin wollte sie gar nicht erst denken. Inzwischen wirkte sein magischer Einfluss nicht mehr, sodass ihr die ganze Angelegenheit nur noch unangenehm und peinlich war.

»Er würde niemals jemanden töten«, sagte Joseph bestimmt. Sein Tonfall zeugte von unerschütterlicher Gewissheit.

Laurent machte einen nicht ganz so überzeugten Eindruck. »Es ist schon sehr lange her, dass ich jemanden verletzt habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es unter Kontrolle habe.«

Nur mit Mühe unterdrückte Emma den Einwand, dass sie in der letzten Nacht einen ganz anderen Eindruck gewonnen hatte. Sogar Rasputin war der Meinung gewesen, dass sie nur das Eingreifen eines gewissen Phantoms vor einem furchtbaren Schicksal bewahrt hatte. »Ich ...«, murmelte Emma. »Ich ... na gut, ich verzeihe dir.«

Laurent atmete erleichtert aus. »Vielen Dank. Ich verspreche, dass so etwas nie wieder vorkommen wird. Des Weiteren werde ich alles daran setzen, mein Verhalten wieder gut zu machen.«

»Ach, schon gut«, meinte Emma und errötete leicht. Sie mochte es nicht, so im Mittelpunkt zu stehen. Außerdem war es ja gewissermaßen eine Selbstverständlichkeit, dass sie Laurent vergab. Immerhin war kein nennenswerter Schaden entstanden. Sie bemühte sich um einen schnellen Themenwechsel. »Sag mal, Laurent, das bunte Haus auf dem Weg zum Schloss. Das ist euer Haus, oder?«

»Wir wohnen im oberen Stock«, erklärte Laurent. »Unten sind die Klassenräume der Schule, die ich leite.«

»Dann bist du so etwas wie ein Lehrer?«

Laurent nickte. »Ja, so könnte man es wohl ausdrücken. Ich versuche den Kindern, die auf der Morgenwind Zuhause sind, alles beizubringen, was sie über das Leben wissen müssen - und nach Möglichkeit noch ein wenig mehr.« Er warf Joseph einen fragenden Blick zu, als erwarte er dessen Zustimmung. Joseph lächelte schmal. »Joseph hier ist mein Gefährte«, fuhr Laurent fort. »Außerdem ist er der Anführer der Kanoniere, eine sehr ehrenwerte und anspruchsvolle Tätigkeit.« Aus Laurents Worten sprach sein ganzer Stolz auf die Leistung seines Partners.

Emma musste unwillkürlich schmunzeln. »Und ... und bist du auch ein Werwolf?«, wollte sie wissen.

Joseph feixte. Dann schüttelte er heftig den Kopf.

»Nein«, fasste Laurent seinen Protest in Worte. »Joseph ist ein Mensch.« Es war schwer zu sagen, ob er diesen Umstand bedauerlich fand oder nicht. Emma konnte sich gut vorstellen, dass es auf Dauer ganz schön einsam sein konnte, das einzige Fabeltier in der Beziehung zu sein.

»Das muss alles ziemlich viel für dich sein, oder?«, fragte Laurent mitfühlend.

Emma zuckte mit den Schultern. »Nun ... ja.« Sie war sich noch immer nicht ganz sicher, ob sie wirklich glauben konnte, was sie sah und hörte. Doch zunächst einmal hatte sie sich vorgenommen, ganz vorurteilsfrei an die Sache ran zu gehen und alles auf sich einströmen zu lassen, egal, wie bescheuert es auch zu sein schien.

Mit schnellen Schritten überbrückte Laurent die Distanz zwischen ihnen und streckte ihr seine Hand hin. »Du bist nicht die Erste, der es so ergeht. Und du bist auch nicht die Erste, die wir hier auf der Morgenwind mit offenen Armen empfangen, selbst wenn der Zeitpunkt etwas ungünstig ist.«

Emma nahm seine Hand, die sich gar nicht wie eine Tatze oder eine Pranke anfühlte. Ganz im Gegenteil. Sie war schmal und feingliedrig, wie die Hand eines Klavierspielers. »Vielen Dank. Aber was meinst du damit? Wieso ist der Zeitpunkt ungünstig?«

»Ach«, seufzte Laurent. »Der Tod des Barons ist erst fünf Tage her und dann gab es da in letzter Zeit noch diese Unfälle ...« Er machte eine wegwerfende Bewegung mit der freien Hand. »Aber darüber solltest du dir nicht den Kopf zerbrechen. Das ist die Aufgabe des neuen Barons.« Sein Kopf fuhr plötzlich herum, als hätte er etwas gehört.

Im nächsten Moment erschien Miragel völlig lautlos im Türrahmen. »Was hat diese Versammlung zu bedeuten?«, wollte er wissen. Sein kühler Tonfall vertrieb die freundliche Stimmung. »Ich kann mich nicht erinnern, dir die Erlaubnis erteilt zu haben, dein Zimmer zu verlassen.«

»Und ich kann mich nicht erinnern, dass Sie es mir verboten haben«, gab Emma zurück.

Laurent grinste. »Es ist nicht ihre Schuld«, erklärte er. »Wir haben sie dazu gebracht, ihr Zimmer zu verlassen.«

»Deine Nase mag es mit mir aufnehmen können, aber dein Verstand kann es nicht«, erwiderte Miragel schnippisch. »Du solltest es besser wissen, als mir eine so durchsichtige Lüge aufzutischen.«

Joseph schob sich zwischen Miragel und seinen Gefährten. »Du sprichst mal wieder, als würde dir die Stadt gehören.«

Emma hätte ihm am Liebsten applaudiert. Jeder, der es wagte, Miragel zu widersprechen, war in ihren Augen ein Held.

»Wenn du damit andeuten willst, dass ich mich für diese Stadt verantwortlich fühle, dann möchte ich dir zustimmen«, erwiderte Miragel aalglatt. »Andernfalls rate ich dir, dich bei Herr Kilian über mein Verhalten zu beschweren.« Anschließend wandte er sich an die ganze Gruppe: »Herr Kilian wird euch jetzt empfangen. Wenn ihr so freundlich wärt, mir zu folgen.« Seine Robe raschelte, als er herumfuhr und ohne auf ihre Reaktion zu warten, aus der Tür stürmte.

Emma und Joseph mussten rennen, um ihn einzuholen. Im Gegensatz zu ihnen bewegte sich Laurent mit einer animalischen Geschmeidigkeit und hatte kaum Mühe, mit Miragel Schritt zu halten.

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