Kapitel 48 - Gebrochene Versprechen

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Alec konnte in dieser Restnacht kein Auge zumachen, obwohl sein Körper sich so ausgelaugt fühlte wie noch nie zuvor. Ständig plagten ihn Albträume von all den Versprechen, die er nicht hatte halten können.

Er stand auf einem mit Asche bedeckten Steinboden, inmitten von nichts als hohen Bergen. Die Luft stank nach Rauch, Verwesung und Tod und brannte in seinen Lungen.
Als er ein Keuchen hörte, zuckte er erschrocken zusammen und wirbelte herum. Sein Herz blieb für einen Augenblick stehen.
Vor ihm lag Max.
Asche bedeckte seine braunen Haare, eins der Brillengläser hatte einen Sprung und seine Haut wirkte unnatürlich blass. Erst dann fiel Alec die Blutlache auf, in der der Kopf seines Bruders gebettet war. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube: Max war beinahe tot.
~Warum hast du mich nicht beschützt, Alec?~, fragte er keuchend und mit seinen letzten Atemzügen.
Seine grauen Augen wirkten leer. Keine Spur von dem fröhlichen Funkeln, welches er oft hatte, wenn er eins seiner Bücher las.
~Max, ich ...~, begann Alec stockend, den Tränen nahe, als er ein weiteres Schluchzen hörte. Sein Blick huschte nach rechts und seine Unterlippe begann zu zittern. Izzy.
Sie kniete auf dem Boden, während sie sich die Seite hielt. Ihre Haare waren verfilzt, ihre dunklen Augen von tiefer Trauer und Enttäuschung geprägt. Zwischen ihren hellen Händen, die sie mit aller Macht auf ihre Seite drückte, quoll Blut wie ein dickflüssiger Strom hervor.
~Warum warst du nicht für mich da, als ich dich gebraucht habe?~, fragte sie vorwurfsvoll und mit rauer Stimme.
~Warum hast du nicht auf deine Geschwister aufgepasst? Das war deine Aufgabe und du hast versagt. Ich bin so enttäuscht von dir.~, erklang eine weitere Stimme und er fuhr erneut zusammen. Als er sich umwandte, hatte er das Gefühl zu Ersticken. Durch den Tränenschleier erkannte er seine Eltern, die nur als geisterhafte Schemen zu erkennen waren, ihn aber dennoch vorwurfsvoll musterten. Sein Vater hatte gesprochen.
~Vater. Bitte! Es war nicht ...~
~Deine Schuld? Doch das war es. Du hattest die Verantwortung für deine Geschwister. Nicht einmal deinen"Freund" kannst du richtig schützen.~, fuhr seine Mutter unbeirrt fort, wobei ihre Stimme vor Ekel nur so tropfte.
Mit einem weiß schimmernden Finger deutete sie auf etwas hinter ihm. Alec schluckte schwer und doch spürte er den Kloß deutlich, der ihm schier die Luft abschnürte. Seine Beine fühlten sich bleischwer an, als er sich langsam umdrehte und schließlich schien sein Herz erneut zu zerbrechen.
Dann gab es kein Halten mehr. Schluchzend hechtete er auf Magnus zu und warf sich neben seinem leblosen Leib in die Asche. Sein Gesicht war totenbleich, seine Atmung flach und angestrengt, während aus der Wunde in seiner Brust immer mehr Blut sickerte.
Alec umschloss die kalte Hand mit seiner eigenen, zittrigen, während sich immer mehr Tränen ihren Weg über sein Gesicht bahnten.
~Einen anderen Mann zu lieben ... Etwas widerwärtigeres gibt es nicht, aber du warst schon immer eine Enttäuschung.~
Die Worte seines Vaters schmerzten mehr als jeder Peitschenhieb und doch schenkte Alec seine ganze Aufmerksamkeit Magnus.
~Du weißt doch, was für ein Sturkopf ich bin~, murmelte dieser leise, was Alec aufhorchen ließ,~Warum hast du mich nicht davon abgehalten, mich deinetwegen zu opfern? Ich hätte die Welt besegeln können. Das kann ich nun nicht mehr ... wegen dir.~
~Magnus, bitte!~
~Vielleicht war es ein Fehler, mein Herz wieder zu verschenken.~
~Nein, war es nicht! Verlass mich nicht! Bitte!~
~Du hättest bei deiner Familie bleiben sollen, so wie ich bei meiner.~
~Nein...~
~Wahrscheinlich habe ich all das Leid verdient. Warum hast du mich nicht aufgehalten? Warum hast du mich fallen lassen?~, murmelte Magnus schwach, während seine Augen langsam leer wurden, als das Leben aus ihnen entwich.
Immer mehr Tränen versperrten Alec die Sicht und eine große Last drückte auf seine Brust, zerriss sein Herz in Tausend Stücke, während immer weitere Wortfetzten auf ihn einprasselten.
Verantwortungslos.
Enttäuschung.
Ekelhaft.
Hoffnungslos.
Schuld.
Langsam begann sich alles um ihn herum zu drehen, als ihn plötzlich etwas festhielt und heftig schüttelte.
Das letzte, was er sah, war Magnus' traurig leerer Blick.

~Alec! Verdammt noch mal, wach auf!~, herrschte ihn eine Stimme an.

Verwirrt schlug er die Augen auf und erblickte Lily über sich, die ihn mit einer Mischung aus Genervtheit und Panik betrachtete.
Als sie bemerkte, dass sie seine Aufmerksamkeit hatte, entspannte sie sich minimal und stieß einen erleichterten Seufzer aus.

~Was ist los?~, fragte er mit heiserer Stimme, sodass er sich ersteinmal räuspern musste. Sein Hals war staubtrocken.

~Davon mal abgesehen, dass du plötzlich angefangen hast zu schreien, dass es dir leidtut, während du mehr geweint hast als hundert Babys in ihrem gesamten Leben? Die Versammlung beginnt gleich und du siehst gerade aus wie der letzte Penner. Also hoch mit dir.~

~Ich habe geweint?~, fragte er verwirrt, ihren Befehl ignorierend, während er sich langsam übers Gesicht fuhr und tatsächlich, seine Wangen waren tränennass.

Natürlich hatte er seinen Albtraum nicht vergessen -wie denn auch- und natürlich hatte alles so schrecklich real auf ihn gewirkt, aber eigentlich war er alles andere als nah am Wasser gebaut.
Das letzte Mal, dass er überhaupt geweint hatte, war, als er gedacht hatte, Magnus hätte ihn nur ausgenutzt.

Wie sehr wünschte er sich diesen Moment zurück, denn zwar hatte er sich dort auch elend gefühlt, aber bei weitem nicht so leer und machtlos wie jetzt.

~Wie ein Wasserfall~, bestätigte sie schonungslos,~Und wer Max und Izzy sind, will ich auch nicht wissen.~

Alec schluckte. Wie sehr er seine Geschwister wohl enttäuscht hatte?
Ob sie ihn vermissten?

Er tat es auf alle Fälle, denn mehr denn je hätte er sie nun gebraucht, aber er konnte sich keine Schwäche erlauben. Nicht jetzt, wo so viel auf dem Spiel zu stehen schien.

~Zu welcher Versammlung?~
~Und er hört einfach nicht auf mit der blöden Fragerei~, seufzte sie theatralisch,~Die Piratenfürsten lassen sich endlich dazu herab, uns Normalschattenweltlern zu sagen, wie es jetzt weitergeht. Deshalb musst du jetzt deinen hübschen Hintern bewegen, deinen Messibart loswerden und zumindest so aussehen, als wäre dir im Moment nicht alles egal.~

Nun war es Alec, der seufzte.
~Ja, Mama.~
~Braver Junge.~, meinte sie und tätschelte übertrieben seine, mit Bartstoppeln übersähte, Wange, bevor sie aufstand.

Sie half ihm hoch und schubste ihn vor sich her, als wolle sie verhindern, dass er sich wieder unter seiner Decke verkroch.

Darüber konnte er nur die Augen verdrehen und während er sich aufmachte, um sich zu waschen, setzte er sich ein persönliches Ziel.

Er konnte es sich nicht länger leisten, schwach zu sein, vor allem nicht in der Gegenwart anderer. Es brachen harte Zeiten an, in denen jede Art von Schwäche bestraft wurde.

Er musste nach Außen hin stark sein, unbezwingbar, auch wenn es in seinem Inneren ganz anders aussah.

Er konnte sich nicht länger von seinen Gefühlen steuern lassen, sondern musste proffessionell, ja beinahe, gefühlskalt werden, sonst würde er unter der Last der Schuld zusammenbrechen.
Es war kein dauerhafter Zustand, das versprach er sich, aber gerade waren Gefühle nichts als eine Ablenkung, die er sich nicht leisten konnte und es für eine noch unbestimmte Zeit auch nicht würde.

Die Fünf Kompasse Der Kali (Malec)Where stories live. Discover now