Kapitel 32 - Vertrauen

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Der Aufstieg war genau so, wie Alec befürchtet hatte, lang und beschwerlich, aber er wagte es nicht, sich zu beklagen. Vor allem weil Magnus ihrer beide Ausrüstung den ganzen Weg über kommentarlos getragen hatte.

Nun kletterte dieser eine gute Körperlänge über ihm und bei ihm sah das alles so mühelos aus, dass Alec ein wenig neidisch wurde.

Aus Sicherheitsgründen kletterten immer nur zwei Personen auf einmal die Wand hinauf, um zu verhindern, dass die Leine riss oder, wenn man stürzte, so wenige wie möglich mit in den Tod nahm.

Dennoch kamen sie erstaunlich schnell voran und waren auch fast oben, als das passierte, was er gedanklich schon immer heraufbeschworen hatte: Kurz vorm Ziel rutschte er ab.

Er fiel nicht tief. Er schaffte es, sich an einen schmalen Felssims festzukrallen, aber der Schock saß so tief, dass er sich nicht traute loszulassen. Seine Beine suchten an dieser beinahe glatten Stelle vergeblich nach Halt und so zappelte er hilflos herum, während ihm der Schweis langsam über den Rücken lief.
Seine Fingerknöchel stachen weiß hervor und die scharfe Felskante schnitt, trotz der Lederhandschuhe, die er trug, tief in seine Handflächen.

~Alexander! Um Himmels Willen! Nimm meine Hand!~, rief Magnus verzweifelt.

Er war bereits oben angekommen und hatte sich nahe der Felskante bäuchlings auf den Boden gelegt und streckte jetzt die Hand nach ihm aus.

Aber er traute sich nicht, sie zu nehmen, zu groß war die Angst, vollkommen abzurutschen und in die Tiefe zu fallen. Deshalb drückte er sich so nah wie möglich an die Felswand, schloss die Augen und begann ein Stoßgebet gen Himmel zu senden.

~Alexander, sieh mich an.~
~Ich kann nicht.~, stieß er hervor.
~Ok, du schaffst das, hörst du? Du musst nur deine Hand aus...~
~Ich kann nicht!~, unterbrach er ihn verzweifelt.

Er wollte Magnus nicht anschreien, aber er hatte gerade Todesangst und da half es ihm herzlich wenig, wenn jemand du schaffst das sagte.

~Weißt du, als ich klein war, da hatte ich Angst ins Meer zu gehen~, wechselte Magnus abrupt das Thema,~Ich konnte nicht schwimmen und habe gedacht, dass mich die See mit ihrer schieren Größe einfach verschlucken würde. Deshalb setzte ich keinen Fuß in dieses kühle Nass. Auch nicht, als mich meine Mutter darum bat. Weißt du, was sie mir damals gesagt hat?~

~Nein. Woher denn auch?~
~Sie hat mir gesagt, dass es in der Welt weder Grenzen noch Ängste gibt. Das alles wäre nur in meinem Kopf, weil ich kein Vertrauen hatte. Nicht in mich selbst und schon gar nicht in meine Umgebung. Dieser Mangel an Vertrauen und Glauben hat meine Fantasie eingeschränkt und ich war innherhalb meiner Grenzen gefangen, die von der Angst bewacht wurden, etwas Neues zu entdecken.
Willst du wissen, was mir meine Mutter geraten hat?~

Alec nickte. Seine Hände umklammerten den bröckligen Sims, aber der Rest seines Körpers hing beinahe entspannt in der Luft. Er konzentrierte sich so sehr auf Magnus' Stimme, dass er aufhörte zu zittern.

Er wollte nicht fallen, aber wenn er dies tatsächlich tun würde, wäre das Letzte, was er hören würde zumindest auch das Letzte, das er auch wirklich hören wollte.

~Sie hat mir gesagt, ich soll die Augen öffnen und mich strecken, um das Vertrauen in mich selbst zu erreichen. Man kann nur etwas wagen, wenn man auf sich selbst vertraut und darauf, dass schlussendlich, so hart der Weg auch sein mag, alles gut werden wird. Also habe ich mich gestreckt. So hoch, wie ich mit meinen sieben Jahren gekommen bin, habe das Vertrauen gepackt und nicht mehr losgelassen. Denn hat man ersteinmal Vertrauen, so kommt der Glaube und die Fantasie von ganz allein. Mit diesen Mitteln kann man die Fesseln der Angst auseinanderreißen und den Grenzen entkommen.
Natürlich ist eine Welt ohne Grenzen nicht gefahrlos, aber mit dem Vertrauen auf ein gutes Ende wird alles erträglicher~, erzählte er sanft,~Und wenn ich es geschafft habe, mir selbst und auch anderen zu vertrauen, dann kannst du es auch schaffen.~

~Wie?~, fragte er gepresst. Seine Arme zitterten vor Anstrengung und seine Finger wurden langsam taub. Er würde sich nicht mehr lange halten können.

~Öffne deine Augen und reck dich nach dem Vertrauen, denn manchmal ist es nur eine Armlänge entfernt. Stoß dich mit deiner ganzen Kraft ab und du wirst deinem Käfig voller Angst entkommen. Du schaffst das! Ich glaube an dich, Alexander, also glaube auch an mich.~, beteuerte er.

Alec atmete zitternd aus.
Er musste es wagen. Für sich selbst, für seine Familie -er konnte seinen Geschwistern nicht den Tod eines weiteren Familienmitglieds zumuten- und für Magnus.

Also winkelte er die Beine, so gut es ging, an und öffnete die Augen, um direkt in Magnus' zu sehen.
Dann stieß er sich mit der letzten, ihm verbliebenen, Kraft ab und streckte sich, um sein Vertrauen zu packen und nie wieder loszulassen.

Kurz ergriff die Angst von ihm Besitz, dass ihn Magnus doch nicht halten könnte, aber sie verschwand, sobald er einen kräftigen Ruck an seinem rechten Unterarm spürte.

Er flog förmlich über den Klippenrand und landete mehr oder weniger sanft auf Magnus, der ihn sofort fest in die Arme schloss und seinen Kopf in Alecs Halsbeuge vergrub. Auch Alec umarmte ihn fest, während seine Herz noch immer versuchte, wieder zur Ruhe zu kommen.

~Und wenn du dir selbst nicht vertrauen kannst~, sagte Magnus leise, als er sich so weit von ihm gelöst hatte, um ihn ansehen zu können,~Dann vertrau wenigstens auf die Menschen, die dir nahe stehen und dich lieben.~

Seine Augen spiegelten dabei pure Wärme und Liebe, aber auch Erleichterung und Unsicherheit wider.

Gerade als die Bedeutung dieser Worte in seinem Verstand ankamen, presste Magnus seine Lippen auf Alecs und zog ihn so in einen leidenschaftlichen Kuss, der sowohl vor Liebe, aber auch vor Glück förmlich Funken zu sprühen schien.

Die Fünf Kompasse Der Kali (Malec)Where stories live. Discover now