77_Lucien

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Als ich Azad das Geld gereicht hatte, hatte ich mich gefragt, was er in diesem Moment wohl über mich dachte. In den vergangenen Tagen hatte ich gelernt, wie viel dieses Geld hier wert war und vermutlich würde es ausreichen um eine ganze Familie Monate lang, vielleicht sogar ein ganzes Jahr zu ernähren, wenn nicht länger.

Mein Vater gab so viel Geld für Kleinigkeiten aus und ich hatte dem nie sonderlich viel Wert beigemessen, weil ich es einfach nicht anders kannte. Aber seit ich hier in der Stadt war, hatte sich meine Wahrnehmung für Geld verändert. Von diesem Geld hätte Azad die Genesung seiner Mutter finanzieren können, er hätte sich ein neues Auge leisten können und ich hatte es als kleines Taschengeld mitgenommen um ein zweiwöchiges Abenteuer zu finanzieren.

Ich fühlte mich schrecklich. Warum war die Spaltung zwischen der Elite und dem Rest der Bevölkerung so groß geworden? Wie konnten wir, die so wenige waren, nahezu im Geld schwimmen, während die anderen jeden Tag um ihr Überleben kämpften? Es musste sich etwas verändern und das bald- das wurde mir erneut bewusst, während Azad das Geld in seinen Händen betrachtete und ebenfalls über etwas nachzudenken schien.

"Das war sie...", meinte ich leise und betrachtete dann selbst wieder das Bild, während ich in Gedanken an meine Mutter festhing.

Ich erinnerte mich nicht mehr an viel von ihr, nur an ihre Geduld mit mir und meinen Schwestern, an ihre liebevolle Art, aber auch an ihr trauriges Lächeln, wenn sie glaubte, dass niemand sie beobachtete. Sie stammte von einer der niederen Adelsfamilien ab, welche allerdings ein wertvolles Stück Land besaßen, das mein Vater unbedingt besitzen wollte- daraufhin kam es zu einer Zwecksvermählung und auch wenn meine Mutter meinen Vater niemals wirklich liebte, so liebte sie ihre Kinder dafür umso mehr. Aber sie sehnte sich nach mehr- das verstand sogar ich trotz meines jungen Alters.

Mein Blick fiel auf den kleinen Jungen, welcher an der Hand meiner Mutter auf dem Foto hing. Ich. Oder genauergesagt ein vergangenes Ich, das vor langer Zeit zu existieren aufgehört hatte. Diesen Jungen, der ein unbeschwertes und fröhliches Leben führte, gab es schon lange Zeit nicht mehr. Er war glücklich gewesen und hatte die Welt in seiner kindlich, naiven Art gesehen- auf dem Foto war ich vielleicht vier Jahre alt gewesen, ich erinnerte mich nicht mehr an den Moment, wo es aufgenommen worden war. Ich wusste nur, dass mir die innere Traurigkeit meiner Mutter wenige Woche später zum ersten Mal auffiel und ich sie dann immer häufiger wahrnam. Von der Zwangsverheiratung erfuhr ich erst viele Jahre später von einer der Dienerinnen. Wenige Tage später verschwand sie spurlos- mein Vater hatte vermutlich Wind davon bekommen und ich hoffte, dass sie noch am Leben war.

Azad und ich schwiegen beide- hingen unseren eigenen Gedanken nach, während Trauer mein Gesicht einhüllte. Ich hatte den Tod meiner Mutter niemals völlig verkraftet und hing ihr immer noch nach. Vermutlich ging es jedem Kind so, welches seine Mutter viel zu früh verlor, auch Azad. Der Rebell zog mich in eine Umarmung und ich fragte mich, ob ihn diese ebenso sehr überraschte, wie mich. Dankbar schmiegte mich an ihn und genoss seine Nähe, erwiderte seine Umarmung. Nicht nur für mich, sondern auch für ihn- ich wollte ihm ebenso beistehen, wie er mir. Ob er wohl auch gerade an seine Mutter dachte?

Ich wusste nicht wie lange wir so verharrten, aber als Azad die Umarmung schließlich wieder löste, fühlte ich mich besser. Gestärkt für das was kommen würde. Ich war mit meinem Schmerz alleine und ich wusste nicht, wie viele Mütter ihre Söhne und Töchter jeden Tag verloren, die Söhne und Töchter ihre Mütter und Väter. Diese Welt war ein grausamer Ort und ich hatte nicht verdient so sehr um meine Mutter zu trauern, bis ich nicht alles dafür getan hatte, dass andere es nicht mehr tun mussten. Wegen meinem Vater starben viele und noch mehr Familien trauerten. Daran musste ich etwas ändern. Ich wollte nicht, dass noch einer mehr trauern musste, obwohl es sich so einfach verhindern ließ.  Gut- einfach war weit auslegbar, aber es reichte ja schon genügend Geld, damit jeder Kranke sich eine Behandlung, jeder Hungernde genügend Essen und jeder Verdurstende Trinken leisten konnte.

Lynx&Lion - The RebellionWhere stories live. Discover now