Kapitel 4

1.6K 257 372
                                    

Als irgendeine Person immer und immer wieder die Klingel betätigt und mich so aus meinem Schönheitsschlaf reißt, ziehe ich mir am nächsten Morgen ächzend die Decke über den Kopf. Auch Harry grummelt und dreht sich zu mir, bevor ich einen Arm auf mir spüre. »Lass uns das einfach ignorieren und weiter schlafen«, murmle ich durch den dicken Stoff. Erst erwidert er nichts, doch weil der störende Gast hartnäckig bleibt, seufzt er. »Vielleicht ist es wichtig.«

Ich verdrehe die Augen, als er aufsteht. Da ich aber weiß, dass er danach sowieso nicht mehr ins Bett kommt, richte ich mich auch auf. Harry ist noch nackt und kramt in einer Schublade, als ich mich erhebe. »Mein Gott, so ein Stress am frühen Morgen«, brumme ich, während ich in einer schwarzen Boxershorts bekleidet die Wendeltreppe herunterhüpfe. Mit schnellen Schritten bin ich an der Tür, die ich keine Sekunde später aufreiße. »Was ist?!«, blaffe ich. Es ist Michelle, die einen hellen Stoffbeutel bei sich trägt und erleichtert die Luft ausstößt. »Man, was brauchst du denn so lange? Ich stehe hier schon Stunden.«

»Ja, sorry. Es ist quasi mitten in der Nacht. Wenn das jetzt kein Notfall ist, dann...« Mir will in dieser Herrgottsfrühe nichts einfallen, sodass ich den Satz unbeendet in der Luft hängen lasse. »Halt mal den Ball flach, außerdem haben wir schon sieben Uhr.«

»Sag ich doch. Mitten in der Nacht. Also ... komm zum Punkt. Was willst du?« Inzwischen ist auch Harry neben mir aufgetaucht, der Michelle zur Begrüßung zunickt. Im Laufe der letzten Monate hat sich sein Misstrauen ihr gegenüber gelegt, sodass auch die beiden inzwischen gut miteinander auskommen. »Hey, Harry. Passt auf. Ich habe die ganze Nacht gegrübelt und mir ist da eben eine Idee gekommen. Außerdem habe ich Magnetpulver und Pinsel dabei, um zu checken, ob der Brief wirklich von Liam kommt.« Zum Beweis hebt sie die Stofftasche hoch, um ihn vor unseren Nasen baumeln zu lassen. »Okay, und was für eine Idee hattest du?«, frage ich.

»Das zeige ich euch gleich. Lasst uns erst einmal die Fingerabdrücke vergleichen. Wir brauchen aber noch einen Gegenstand, den Liam definitiv angefasst hat.« Im Augenwinkel sehe ich, dass Harry nickt. »Ich hole eben den Schlüssel für seine Wohnung, da werden wir ja wohl was finden«, erwidert er, während ich mir seufzend über das Gesicht reibe. »Lasst uns gleich im Arbeitszimmer treffen. Ich muss mir erst die Zähne putzen, vorher mache ich hier gar nichts.«

Knapp zehn Minuten später versammeln wir uns gemeinsam vor dem Schreibtisch. Während Harry und ich jeweils mit verschränkten Armen an den Seiten stehen, hat Michelle auf dem Chefsessel Platz genommen, um die Sachen aus ihrer Tasche auszupacken. Mit sauberen Handschuhen zieht sie den Umschlag und die Karte aus der Klarsichtfolie heraus. »Ich hoffe, dass das klappt, sonst haben wir ein Problem«, murmelt sie und kramt dabei ein Feuerzeug heraus. Mit großen Augen tritt Harry einen Schritt näher. »Was soll das heißen? Was hast du überhaupt vor?«

»Na ja, zuerst schaue ich, ob auf dem Brief Fingerabdrücke sind und dann kommt das Feuerzeug zum Einsatz. Im Brief stand doch was von ›Doch wenn man die Zeichen von einer anderen Seite betrachtet, versteht man den Appell des Unbekannten. Man muss nur das Feuer entfachen‹ ... Hattet ihr nie Geheimschrift in der Schule oder im Kindergarten?« Mein Blick huscht irritiert zu Harry, der mich aber auch nur ratlos ansieht und mit den Schultern zuckt. »Oh, wow. Ich dachte, das kennt jedes Kind. Jedenfalls kann man zum Beispiel mit Zitronensaft oder Salzwasser so eine Art unsichtbare Tinte machen. Wenn du das dann ein bisschen mit dem Feuerzeug erhitzt, wird sie sichtbar.« Skeptisch ziehe ich eine Augenbraue hoch und beobachte sie dabei, wie sie den Deckel einer kleinen Dose aufdreht. »Aber vorher suchen wir mal nach Fingerabdrücken.«

»Warum nimmst du nicht die Fingerabdrücke vom Umschlag, wenn du den Brief dann eh abfackelst?«, frage ich sie. Ohne mich anzuschauen schüttelt sie den Kopf und zieht aus einem schwarzen Etui einen Pinsel. »Weißt du eigentlich durch wie viele Hände der bei der Post gegangen ist? Sollte das wirklich von Liam kommen, sind da mindestens noch Fingerabdrücke von fünf anderen Personen drauf.« Verstehend nicke ich, denn daran habe ich nicht gedacht.

Stirnrunzelnd streut Michelle vorsichtig Pulver über den mysteriösen Brief, ehe sie zum Pinsel greift und damit sachte über das Papier fährt. Es ist mucksmäuschenstill im Raum, der Fokus auf die Karte beinahe greifbar. Als dann aber schon nach wenigen Sekunden die Umrisse einer ganzen Hand erkennbar werden, reiße ich meine Augen auf. »Oh Gott ...«, flüstert Harry, der sichtlich schluckt. »Von wem das auch kommen mag ... Die Person wollte, dass man seine Fingerabdrücke findet.« Auch Michelle nickt, bevor sie den Pinsel wieder beiseite legt und dann einen Streifen Klebefolie von der Rolle abschneidet, den sie anschließend sanft auf die Schatten der Fingerkuppen legt. »Machst du damit nicht das Papier kaputt, wenn du es wieder abziehst?« Doch wieder schüttelt sie nur den Kopf auf meine Frage und nimmt den Klebestreifen wieder ab, den sie auf eine weiße Karte klebt. »Ich habe Kontakte, die überprüfen können, ob die Abdrücke mit denen auf der Fernbedienung von Liam übereinstimmen.«

»Okay, und was machst du jetzt mit dem Feuerzeug? Das habe ich irgendwie noch nicht kapiert, was du meinst«, frage ich. Harry bleibt still, während er misstrauisch Michelles Handeln beobachtet. Ich verkneife mir ein Lachen, weil er so aussieht, als würde er ihr gleich alles aus der Hand reißen. »Okay, schau her.« Blinzelnd blicke ich wieder zu ihr. Mit dem Feuerzeug in der rechten Hand lässt sie die kleine Flamme entzünden, bevor sie vorsichtig die Karte darüber hält. Mit zusammengekniffenen Augen gehe ich in die Hocke, um von unten etwas zu erkennen.

Oh Gott! Tatsächlich kommen irgendwelche Zahlen und Buchstaben zum Vorschein, weshalb ich anerkennend nicke. Hätten wir Michelle nicht gehabt, wären wir wohl nie auf die Idee gekommen. Vielsagend schaue ich Harry an, der jedoch nur die Augen verdreht. »Danke«, bringt er dennoch hervor, als Michelle das Papier wieder auf den Schreibtisch legt, sodass wir die sichtbaren Buchstaben lesen können.

165 Lloyd Ave
Modesto, CA 95397

Carter hält mich hier fest. Alleine scha

Mehr steht nicht drauf, aber der eine Satz reicht schon, um zu wissen, dass jemand in Schwierigkeiten steckt. »Er scheint unterbrochen worden zu sein. Aber das ist zu hundert Prozent Liams Handschrift. Er braucht unsere Hilfe.« Kaum hat Harry das ausgesprochen, springt er auf und rauft sich die Haare. Liam, Harrys bester Freund, wird festgehalten. Ich frage mich, warum. Vielleicht hat es ihm wieder in den Fingern gejuckt und er wurde bei einem Einbruch erwischt. Wobei das eigentlich eher Zayns Lieblingsbeschäftigung ist. »Modesto ...«, murmelt Michelle. »Das sind knapp hundert Meilen von hier. Und wer ist Carter?«

Harry schluckt und sieht zu mir. »Mein Exfreund. Und auch Liams.« Stimmt. Da klingelt was in meinem Kopf. Liam hat mir damals, als Harry verhaftet wurde, im Hotelzimmer von ihm erzählt. Dieser Macker hat beide verarscht. Und jetzt hält er ihn fest? »Oh, wow. Und warum sollte er Liam festhalten? Hat er ihm irgendwas getan?«, hakt sie weiter nach. »Warum er das sollte, weiß ich nicht. Fakt ist, dass er es tut. Wir müssen da hinfahren. Am besten packen wir direkt ein paar Dinge ein.«

»Warte, warte. Und dann? Willst du da einfach aufkreuzen, klingeln und freundlich darum bitten, dass sie Liam rausrücken? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das funktioniert.«

»Unterwegs wird mir schon etwas einfallen. Kommt ihr mit, oder bleibt ihr hier? Wo ist Zayn überhaupt?« Michelle senkt den Blick, als Harry das fragt. Räuspernd beginnt sie, ihre Sachen wieder einzupacken. »Der schläft wohl noch. Ich schätze, die Fingerabdrücke brauche ich dann nicht mehr weitergeben?« Mein Freund schüttelt den Kopf und wirft mir einen vielsagenden Blick zu, den ich nickend erwidere. Irgendetwas stimmt bei den beiden nicht, mir kamen sie gestern schon merkwürdig vor. Hoffentlich muss der arme Zayn nicht auch einen Sex-Entzug erleiden. Ohne uns noch einmal anzusehen, steht Michelle auf. »Ich geh dann mal rüber, um Zayn Bescheid zu geben.« Nur wenige Augenblicke später fällt unten im Flur die Wohnungstür hinter ihr zu.

»Oh man, da gibt's wohl Stress bei den beiden«, nuschle ich, während Harry bereits dabei ist, sein Notebook in die Tasche zu schieben. »Glaub ich auch. Aber sie bekommen das bestimmt wieder hin.«

»Das hoffe ich auch. Mit einem schlechtgelaunten Zayn ist nicht zu spaßen.«

____
Harry hat Liams Handschrift erkannt. Damit bestätigt sich deren Vermutung, dass es um ihren Kumpel geht.

Kennt ihr die Geheimtinte? Tatsächlich hatten ja zwei oder drei von euch schon die Ahnung, dass sie damit der Lösung einen Schritt näherkommen :D

Carter also. Erinnert ihr euch noch an ihn? 

Und was ist bei Michelle und Zayn los?

Fragen über Fragen ... :)

Zatago III - [Larry-AU]Where stories live. Discover now