Kapitel 20 - Jessica

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Ich war angepisst. Ich war verwirrt. Ich war erleichtert, war froh Tyler zu sehen und gleichzeitig wollte ich ihm den Hals umdrehen.
Was war passiert, dass dieser Junge so viel Einfluss auf mein Leben hatte? Er hatte es geschafft, meinen ersten Mädelsabend seit Wochen in wenigen Minuten komplett zu zerstören. Was fiel dem Kerl überhaupt ein herzukommen?
Ich stieß die große Tür ins Freie auf und atmete tief die frische Nachtluft ein. Es war Samstagabend, auch vor dem Club, auf dem Bürgersteig tummelten sich Leute, was mich jedoch nicht davon abhielt, mich zu Tyler umzudrehen und ihn lauthals anzufahren.
„Was sollte das?" Ich versetzte ihm einen Stoß, von dem er sich aber natürlich nicht beeindrucken ließ.
„Was wolltest du von so einem Lackaffen?", hielt er dagegen.
Wie konnte er nur die Frechheit besitzen und mich sowas fragen?
Ich verschränkte trotzig meine Arme. „Das geht dich überhaupt nichts an."
Er belächelte mich. „Ging es dir um sein Geld? Wolltest du an seinen Schotter? Hast du dich deshalb von ihm begrabschen lassen, als wärst du eine billige Schlampe?"
Ich konnte nicht fassen, was ich gerade gehört hatte. Rasend vor Wut holte ich zu einer Ohrfeige aus, doch Tyler hatte dazu gelernt. Er sah sie kommen, griff nach einem Handgelenkt und stoppte mich noch bevor meine Hand seinem Gesicht zu nahe kommen konnte.
Sein eiskalter Blick durchbohrte mich.
„Wag es ja nicht." Seine Stimme klang emotionslos und unheimlich tief.
In dieser Position verharrten wir und es nahm mir den Atem. Eine halbe Ewigkeit starrten wir einander wütend an. Dann fand ich den Mut, ihm grob meine Hand zu entreißen, wandte mich ab und lief los. Ich wusste nicht einmal wohin. Ich rannte auf die Straße ohne nach links und rechts zu sehen, was sich als fataler Fehler erwies. Ein dröhnendes Hupen ertönte, ich sah grelle Scheinwerfer auf mich zukommen. Wie von selbst blieb ich stehen, erstarrte, war unfähig, mich zu bewegen.
Bitte nicht.
„Jessica!", ich hörte Tyler meinen Namen schreien und kurz darauf wurde ich hart zur Seite gerissen.
Wir fielen und ich landete unsanft auf Tyler's Körper. Danach wurde es still.
Ich nahm Tyler's Brust wahr, die sich unter mir schwer hob und schenkte. Ich konnte ihn fühlen. Ich war noch am Leben, Tyler hatte mir gerade mein Leben gerettet.
Ich weiß nicht wie viel Zeit verging, bis ich schließlich auf sah und in seine besorgten Augen blickte.
„Geht es dir gut?", fragte er heiser.
Mir war, als hätte ich meine Stimme verloren, deshalb nickte ich lediglich, dann krabbelte von ihm runter. Er richtete sich auf und half anschließend mir wieder auf die Beine zu kommen. Die wenigen Personen, die stehen geblieben waren, mehr aus Neugier, als wirklich helfen zu wollen, tuschelten und gingen wieder ihrer Wege. Nun standen wir da, fixierten uns erneut mit unseren Blicken. Tyler fuhr sich mit der Hand durch sein Haar, er wirkte unsicher, druckste rum.
„Es tut mir leid, Jess. Ich hätte das eben nicht sagen dürfen."
So viele Emotionen stürzten auf mich ein, Tränen brannten in meinen Augen, doch ich blinzelte sie weg. Ich wollte nicht weinen, nicht schon wieder. Mir schien es immer noch unmöglich, auch nur ein Wort von mir zu geben, also lächelte ich ihn sachte an und ging. Ich überquerte die Straße, diesmal achtete ich vorher auf die fahrenden Autos. Ich lief zum angrenzenden Ufer des East River, blieb dort stehen und schaute in die Ferne.
Tyler war mir gefolgt, ich spürte seine Anwesenheit. „Bitte rede mit mir, Jess."
„Wieso hast du im Café ihre Nummer eingesteckt?", stellte ich ihm die Frage, die mich seit Tagen beschäftigte.
„Geht es hier tatsächlich darum?"
Warum konnte er nicht einfach meine Frage beantworten?
Ich sah ihm tief in die Augen. „Hast du sie angerufen?"
„Nein. Ich habe die Nummer nicht einmal mehr."
Ich wusste wirklich nicht, ob ich ihm das glauben sollte oder nicht.
„Wieso hast du mich geküsst, wenn ich überhaupt nicht dein Typ bin?" Die Worte verließen meinen Mund ohne dass ich drüber nachdachte.
Tyler' Blick verhärtete sich. „Wer erzählt dir so einen Bullshit?"
„Ich hab gehört, wie du es im Café zu Erin gesagt hast", konterte ich spitz.
„Hast du uns belauscht?"
Ich verstand ihn einfach nicht. Wie konnte er jetzt allen Ernstes sauer auf mich sein?
„Ich habe verdammt nochmal 2 Meter neben euch gestanden und gearbeitet", rechtfertigte ich mich und schnaubte laut.
Diesmal war er es, der sich abwandte. Er sah hinaus aufs Wasser, fischte dann aus seiner Jackentasche ein Päckchen Zigaretten und steckte sich eine an.
„Du warst heute das schönste Mädchen in dem Club."
Mein Herz stolperte. Hatte er das gerade wirklich gesagt?
Er schaute zu mir rüber und schmunzelte.
„Wo auch immer du bist, egal wohin du gehst, du bist immer die Schönste", sagte er.
Schmetterlinge flogen in meinem Bauch und ein Lächeln trat in mein Gesicht.
„Ich habe gelogen, Jess. Ich habe Erin angelogen, weil ich nicht wollte, dass die Jungs in der Bar Wind von der Sache bekommen", fuhr er fort und kam auf mich zu.
Vor mir blieb er stehen, sah zu mir hinab. „Genügt dir das als Antwort?"
„Ja", sagte ich leise, schluckte hart und versank in seinen Augen.
Ein Hupkonzert auf der Brooklyn Bridge lenkte unsere Aufmerksamkeit auf sich, ich würde nie verstehen, wieso die Stadt niemals schlief.
Mein Blick glitt zu der Zigarette in seiner Hand. „Kann ich auch eine?"
Erst lag Skepsis in seinem Blick, dann reichte er mir grinsend die Packung. Nachdem ich mir die Kippe an den Mund gesteckt hatte, gab er mir Feuer.
Schweigend liefen wir den Weg am Ufer entlang, den Blick auf die Skyline von Manhattan gerichtet. Je näher wir der Brooklyn Bridge kamen, desto lauter wurde der Lärm der Autos. Ich erblickte einen der großen, roten Touristen Busse, der den Touris von der Brücke aus einen spektakulären Blick auf das nächtliche Manhattan bot.
„Für die meisten Touristen ist das hier eine der schönsten Städte der Welt", sprach ich und sah zu Tyler rauf. „Die sind alle auf der Durchreise, auf der Suche nach einem kleinen Abenteuer, aber keiner von denen sieht hinter die Fassade. Die wissen nichts über das Leben in dieser Stadt. Über unser Leben, über unsere Probleme. Was würde ich dafür geben, bloß einen Tag so sorglos zu sein wie die."
Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus und mit einem Mal legte Tyler seine Arme um mich, zog mich in eine Umarmung. Ich erwiderte sie, krallte mich fest an ihn. Mein Kopf lehnte an seine Brust, er bettete sein Kinn auf meinem Haar. So standen wir eine Weile da, schauten in die Nacht und irgendwann brachte er mich nach Haus.

Als ich am Sonntagmorgen wach wurde, hatte ich immer noch ein Kribbeln im Bauch. Ich wiederholte ständig Tyler's Worte in einem Kopf.
Du warst heute das schönste Mädchen in dem Club.
Grinsend schlug ich die Hände vors Gesicht, ich glaubte, so etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt.
Mit Schwung erhob ich mich aus meinem Bett. Es war noch früh und da ich heute nicht arbeiten musste, hätte ich ohne Probleme weiterschlafen können, doch ich war hell wach und voller guter Laune. Die Stimmung sank ein wenig, als ich aus dem Fenster sah und die grauen Wolken am Himmel entdeckte. Dazu nieselte es und mein gerade entwickelter Plan, zu Elena zu fahren und sie zum Frühstücken zu entführen, wurde durchkreuzt. Ich zuckte mit dem Schultern und tapste in die Küche, um mir frischen Kaffee zu brühen. Während der Kaffee durchlief, wählte ich die Nummer meiner besten Freundin, doch ich landete auf ihrer Mailbox. Meine Laune sank um ein weiteres Stück. Ich rief meinen Bruder an, um ihn zu fragen, ob er Lust hätte, zum Frühstück vorbei zu schauen, da er mit Sicherheit kein Problem damit hatte, die 10 Minuten durch den Nieselregen zu meiner Wohnung zu laufen, doch auch er ging nicht ran. Jetzt war ich ein wenig deprimiert, doch ich schaltete das Radio an und bekämpfte die aufkommende schlechte Laune mit lauter Musik. Ich briet mir 2 Spiegeleier und ein bisschen Bacon, den ich noch im Kühlschrank hatte und aß alleine mein Frühstück. Danach setzte ich mich an meinen Laptop und schrieb.
Nach ein paar Stunden, trudelte eine Nachricht auf meinem Handy ein, ich ließ alles stehen und liegen und checkte den Absender. Zu meiner Enttäuschung stellte ich fest, dass es nicht Tyler war, der mir geschrieben hatte, sondern Elena, die mich wissen ließ, bei Ian übernachtet zu haben und mir versprach, sich später bei mir zu melden.
Nachdem eine weitere Stunde vergangen war und ich vor Langeweile fast starb, beschloss ich Erin anzurufen. Sie ging nach dem ersten Klingeln ran.
„Na, du Turteltäubchen", begrüßte sie mich.
„Ha ha, sehr witzig."
Sie lachte herzlich auf. „Na, ich dachte du rufst an, um mir von deinem sensationellen Sex mit Tyler zu berichten", zog sie mich weiter auf.
„Ich hab nicht mit ihm geschlafen." Ich spürte, wie sich meine Wangen erröteten.
„Noch nicht", entgegnete sie mir.
Ich seufzte. „Können wir das Thema wechseln?"
„Klar, wieso rufst du an?"
Das wusste ich selbst nicht genau.
„Ich langweile mich. Elena ist bei Ian, Josh geht nicht an sein Handy..."
„Josh ist bei mir in der Werkstatt", unterbrach sie mich. „Wir sind in ca. einer halben Stunde fertig und wollten dann einen Happen essen gehen, willst du mitkommen?"

Wir fuhren in eine Pizzeria, die Josh vorgeschlagen hatte. Ein kleiner, familiärer Laden mit gemütlichem Ambiente.
Die Beiden erzählten, dass die Reparatur des Oldtimers für Daxton Dearing abgeschlossen war und der Wagen demnächst zusammen mit dem ersten, von Josh gestohlenen, Auto verschifft werden würde. Danach waren nur noch 2 Wägen übrig, die, so wie ich es verstanden hatte, in einem Mal geklaut werden würden, da beide in derselben Garage standen. Es trennte Josh nur noch ein Diebstahl von der Erlassung seiner Schulden. Wenn alles gut gehen würde, war er in wenigen Tagen schuldenfrei, ein freier Mann. Und zu meiner Überraschung hatte er sich bereits Gedanken über seine Zukunft gemacht. Erin hatte ihm einen Platz in Ihrer Werkstatt angeboten, welchen er mit Freude angenommen hatte.
Kurz nachdem wir die Rechnung bestellt hatten, vibrierte Erin's Telefon. Sie stöhnte und nuschelte etwas, dass ich allerdings nicht verstand. Sie hatte uns gestern gebeichtet, von ihrer Freundin verlassen worden zu sein, nachdem diese sie im Krankenhaus besucht und mitbekommen hatte, wie es zu ihrer Verletzung gekommen war. Sie konnte es nicht mit sich vereinbaren, dass Erin krumme Dinger für Daxton Dearing drehte und selbst jetzt, nachdem Erin einen klaren Schlussstrich darunter gezogen hatten, kam sie nicht zu Erin zurück.
Anscheinend war es nicht ihre Ex Freundin, denn Erin schmunzelte und schüttelte den Kopf nachdem sie die Nachricht auf ihrem Handy gelesen hatte.
„Er versteht es einfach nicht."
Josh und ich sahen uns stirnrunzelnd an, worauf hin Erin uns die Nachricht zeige.

Gage:
Liebste Erin,
sag mir, denkst du genauso oft an mich, so wie ich, immerzu an dich? Lasse es mich bitte wissen, denn ich würde dich so gerne küssen. Du bist die Eine, eine andere, will ich keine.

Wir brachen in schallendes Gelächter aus und Josh ergriff das Handy. Grinsend tippte er vor sich hin und drückte auf „Senden".

LONGING FOR CHANGEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt