Kapitel 16 - Jessica

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Als ich meine Augen öffnete, wusste ich nicht, wo ich mich befand. Ich richtete mich auf, ließ meinen Blick über die mir fremde Umgebung schweifen, da fiel mir alles wieder ein.
Josh, der mich angerufen hatte, die Polizei, die hinter ihm her gewesen war, das gestohlene Auto mit der Delle im Blech, Erin, die sich schützend vor meinen Bruder stellte, das Blut, welches auf den Boden tropfte, Tyler, der sich liebevoll um mich kümmerte.
Der Kuss.
Tyler hatte mich geküsst. Oder hatte ich das nur geträumt?
Ich schloss die Augen, dachte an den Moment zwischen uns zurück. Unsere tiefen Blicke, seine Hand an meiner Wange, seine samtigen Lippen, die sich auf meine legten. Ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper, genau wie vorhin. Es war kein Traum gewesen.
Wie lange hatte ich geschlafen?
Ich schlug die Bettdecke zurück, stieg aus dem Bett und trat an das Geländer heran, das sich am vorderen Teil dieses Bereiches neben der Treppe befand. Von hier aus hatte man das gesamte Loft im Blick. Es war größtenteils dunkel, ich machte nur eine kleine Lichtquelle aus. Es war der Fernseher der lief. Ich erkannte Tyler's Umrisse auf dem großen Sofa, er war noch wach.
Eine Weile stand ich so da und betrachtete ihn.
„Wie lange willst du noch da oben stehen und mich beobachten?" erklang seine tiefe Stimme.
Verdammt, wie hatte er mich bemerkt? Peinlich berührt tapste ich barfuß die Stufen hinunter und lief aufs Sofa zu.
„Ich konnte nicht mehr schlafen."
Tyler nahm mich ins Visier und ich zupfte nervös an meinem Rock herum.
„Dann komm her." Er deutete auf den freien Platz neben sich.
„Wie spät ist es?" fragte ich, während ich mich auf die Couch sinken ließ.
„Kurz nach Mitternacht."
Ich wusste nicht genau, wie ich mich verhalten sollte. Tyler hatte mich zwar geküsst, sich danach aber auch rasch von mir zurückgezogen. Vermutlich hatte er aus einem Impuls heraus gehandelt, bevor ihm dann klar wurde, dass es eine schlechte Idee war, dass wir beide uns näher kamen als notwendig. Ich sollte ihm dankbar sein, diese Entscheidung für uns getroffen zu haben, war es aber aus irgendeinem Grund nicht. Er würde mich kein 2. Mal küssen und, so viel war sicher, auch nicht das Bedürfnis haben, über unseren Kuss zu sprechen, also beschloss ich, mich so normal wie möglich zu verhalten und so zu tun, als wäre nichts zwischen uns passiert.
Ich erspähte ein Stück Tunfisch Pizza auf einem Teller der auf dem Couchtisch stand.
„Ist schon kalt, aber bediene dich ruhig."
Wie konnte es sein, dass der Kerl meine Blicke so gut deuten konnte? Während ich also aß, ruhte sein Blick auf mir.
„Erin's Stichwunde wurde genäht, sie bleibt noch eine Nacht zur Überwachung dort, kann aber morgen, wenn ihre Werte in Ordnung sind, gehen."
Ich war erleichtert, dass zu hören. Gerne würde ich sie nochmal wieder sehen. Ich überlegte, ob das überhaupt möglich war, sprach Tyler aber nicht drauf an, weil ich mir nicht sicher war, ob er es verstehen würde.
„Du willst du bei ihr bedanken, hab ich recht?"
Perplex sah ich ihn an, dann nickte ich.
„Wäre sie nicht gewesen, hätte das Messer meinen Bruder getroffen", erklärte ich.
„Ich ruf sie die Tage mal an."
Er wirkte so unheimlich verständnisvoll, als er das sagte. Ich lächelte matt in mich hinein, sah dann in sein Gesicht.
„Was ist los, Jess?"
„Ich hasse es, dass du mich so gut kennst, ich aber überhaupt nichts über dich weiß."
Ich wandte meinen Blick ab. Im Augenwinkel sah ich, dass er nach etwas griff, danach hörte ich das Klicken eines Feuerzeugs.
„Was willst du denn wissen?" Seine Stimme klang gelassen.
Es gab eine Frage, die mir auf der Seele brannte, ich traute mich nur nicht sie auszusprechen. Ich hob meinen Blick, schwieg ihn eine halbe Ewigkeit an, bis ich mich schließlich räusperte.
„Hast du jemanden umgebracht, Tyler?"
Jetzt war es zu spät, die Worte wieder zurück zu nehmen. Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, jedoch zeige er keinerlei Reaktion. Es war vermutlich ein schlechtes Zeichen, dass ihn meine Frage nicht überraschte. Er zog an seiner Zigarette, atmete den Rauch tief ein und blies in wieder aus.
„Ja."
Mein Herz machte einen Satz, er hatte es gerade zugegeben. Ich sollte aufspringen, meine Sachen zusammen suchen und von hier verschwinden, aber alles was ich tat, war ihn wortlos anzusehen.
„Es ist gut zweieinhalb Jahre her", begann er zu erzählen. „Es war Samstagnacht, im Fort Hamilton's war die Hölle los. Einer meiner Gäste hatte bereits ordentlich getankt und verschwand dann plötzlich ohne zu bezahlen. Ich ging raus zum Parkplatz und entdeckte ihn an seinem Wagen. Ich rief ihm zu, dass er verdammt nochmal seine Rechnung bezahlen sollte, doch er hörte nicht und machte Anstalten, in den Wagen zu steigen. Ich war ohnehin schon wütend, dass er abhauen wollte ohne zu zahlen, aber als ich sah, dass er stockbesoffen Autofahren wollte, platzte mir der Kragen. Ich rannte auf ihn zu und entriss ihm die Autoschlüssel, brüllte ihn an, wollte wissen, ob er sich die letzten verbliebenen
Gehirnzellen weggesoffen hätte. Er machte mich ebenfalls an, beleidigte mich als Pussy, fragte wieso ich keine Eier in der Hose hätte. Er drohte mir, ich solle ihm die Schlüssel wieder geben oder ich würde es bereuen. Wir bekamen Zuschauer, in der Menge tauchte Hunter auf, er versuchte zu schlichten. Er steckte dem Typen, dass ich so allergisch reagierte, weil meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, an dem ein betrunkener Autofahrer die Schuld getragen hatte.
Alles, was der Typ darauf erwiderte war: „Dann hatten sie es vielleicht verdient."
Ich sah rot, fing an, auf den Kerl einzuschlagen. Er wehte sich, schlug zurück. Die Leute um uns herum riefen uns zu, feuerten uns an. Ich war so wütent und so voller Hass, ich konnte einfach nicht aufhören. Selbst als er blutüberströmt und reglos am Boden lag, schlug ich weiter zu. Irgendwann hörte ich Sirenen, jemand hatte die Cops gerufen. An alles was danach passierte, erinnere ich mich nur verschwommen." Tyler machte eine Pause und suchte meinen Blick.
„Der Kerl ist 2 Tage später im Krankenhaus gestorben."

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