Kapitel 10 - Jessica

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Auf meinem Nachhauseweg erhielt ich endlich den erlösenden Anruf von meinem Bruder. Was er mir zu sagen hatte, war allerdings alles andere, als erlösend. Nicht nur, dass er Schulden hatte, allen Anschein nach, süchtig danach war, Wetten abzuschließen, jetzt wollte er auch noch eine Laufbahn als Krimineller einschlagen. Mir fielen von Tag zu Tag mehr die Worte, um auszudrücken, wie fertig mich das Ganze machte. Mit dem Handy am Ohr, bog ich in meine Straße ab und lief diese runter, bis zu meiner Wohnung, ohne zu bemerken, wer dort auf mich wartete. Fast erschrak ich, als ich meinen Blick hob und ihn sah. Tyler lehnte an seinem Motorrad und beobachtete mich. Wie lange er hier wohl schon auf mich wartete? Ich schaute hinauf, der Himmel war rabenschwarz, es sah aus, als würde er jeden Augenblick über uns zusammen brechen. Je näher ich kam, desto unwohler fühlte ich mich. Was wollte er von mir? Was fiel im überhaupt ein, einfach hier aufzutauchen?
„Hör zu, ich muss Schluss machen. Ich melde mich später wieder" beendete ich mein Telefonat.
Als ich vor Tyler zum Stehen kam, richtete er sich auf und warf die Zigarette, an der er eben noch gezogen hatte, achtlos beiseite.
„Was willst du hier?"
„Du weißt es also schon, nehme ich an?" Er überging meine Frage einfach.
Ich schnaubte verächtlich. „Ich habe dich darum gebeten, meinem Bruder zu helfen, nicht ihn noch tiefer in die Scheiße zu reiten."
Sein Gesichtsausdruck wurde kühl. „Du hast mich gefragt, ob es keine andere Lösung gibt. Nun, hier hast du deine Lösung. Er ist die Schulden los, wenn er das Ding durchzieht" rechtfertigte Tyler sich.
Ich schüttelte den Kopf. „Und was ist, wenn etwas schief geht?"
Ich wollte gar nicht daran denken, wie es wäre, Josh im Gefängnis besuchen zu müssen. Ohne seine Antwort abzuwarten, steuerte ich auf die Treppe, die vor einem Wohneingang lag, zu und nahm die ersten Stufen. Er stieß lautstark die Luft aus seiner Lunge und kam mir nach.
„Wenn du vorher darüber nachdenkst, was wäre, wenn, dann kann es gar nicht klappen."
Was für eine beruhigende Aussage.
„Schönen Abend noch, Tyler", meinte ich daraufhin, ohne mich zu ihm umzudrehen.
Er sollte merken, was ich von seinem Auftritt hielt. Gerade stecke ich den Schlüssel ins Schloss, da durchbrach dröhnender Donner die Stille, die auf der Straße herrschte und kurz darauf begann es, wie aus Eimern zu schütten. Eilig sperrte ich die Tür auf und huschte ins Treppenhaus. Tyler schien einen Moment lang zu überlegen, ob er mir folgen sollte, kam dann aber doch rein, um Schutz vor dem Regen zu suchen.
Er sah nach draußen, wo gerade die Welt unterzugehen schien, dann zu seinem Motorrad. Genervt murmelte er etwas, das sich wie „Verfickte Scheiße" anhörte.
Toll, was mache ich denn jetzt mit ihm?
Mein erster Impuls war, ihn einfach hier unten stehen zu lassen, aber aus irgendeinem Grund konnte ich es nicht.
„Komm mit hoch und warte, bis das Gewitter nachlässt." Ich suchte seinen Blick.
„Nicht nötig."
Wow, ich machte mich hier völlig zur Idiotin. Gut, dann eben nicht. Ich lief ohne ein weiteres Wort hoch zu meiner Wohnung, die sich im 1. Stock befand.

Kurze Zeit später klopfe es an meiner Tür. Hatte er jetzt wirklich 5 Minuten da unter gestanden und mit seinem Stolz gehadert? Ich ließ ihn ein wenig zappeln, dann öffnete ich die Tür. Wortlos trat er ein und schaute sich unauffällig aber interessiert um.
„Willst du was trinken?", erkundigte ich mich und versuchte meine Stimme möglichst emotionslos klingen zu lassen.
„Ein Bier."
Augenverdrehend ging ich in die Küche und kochte uns 2 Tassen Kaffee. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, hatte ich angenommen, Tyler hätte sich inzwischen gesetzt, doch er stand immer noch mitten im Raum.
„Bier gibt es hier nicht." Ich reichte ihm seine Tasse und ließ mich dann auf meinem Sofa nieder.
Ich konnte nicht glauben, dass ich ihm tatsächlich angeboten hatte, rein zukommen.
„Du hast mir meine Frage noch nicht beantwortet", erinnerte ich ihn.
Er schlenderte zu einem meiner Fenster rüber, starrte gespannt raus, so als könnte er es kaum erwarten, wieder von hier zu verschwinden, dann drehte er sich um und lehnte sich gegen meine Fensterbank.
„Welche Frage?" Seine Stimme klang unheimlich tief.
„Was du hier willst?"
Ich glaube, er machte sich Gedanken darüber, was er mir darauf Antworten sollte, denn er schwieg einen Moment lang. „Ich wollte nach dir sehen."
Perplex hob ich meinen Kopf und richtete meinen Blick auf ihn. Ich kann nicht sagen, wie lange wir uns stillschweigend anstarrten, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Mir war die Stille unangenehm, also räusperte ich mich.
„Wird es gefährlich werden für Josh?"
„Wenn er sich nicht allzu dämlich anstellt, dann nicht, nein."
„Wird er nicht, er kennt sich aus mit Autos."
Tyler stieß sich von der Fensterbank ab und kam grinsend auf mich zu.
„Das weiß ich. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht."
Für diese Überheblichkeit hätte ich ihm gerne eine runter gehauen.
„Und was ist mit mir? Bin ich auch Teil deiner Hausaufgaben?"
Seine Augen verengten sich. „Willst du die Antwort darauf wirklich hören?"
Wollte ich nicht, nein.
„Vermisst du sie?" fragte er aus heiterem Himmel.
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon er überhaupt sprach. Ich sah zu ihm rüber und bemerkte, dass er vor einer Holzkommode stehen belieben war und die Fotorahmen, die darauf standen, betrachtete.
Mom.
„Manchmal mehr, manchmal weniger", gestand ich ihm. „Wir hatten nicht das beste Verhältnis."
„Woran lag's?"
Ich seufzte laut. „Zum einen daran, dass sie eine schrecklich egoistische Person war."
Tyler hob die Augenbrauen. „Was meinst du damit?"
Kurz überlegte ich, ob es richtig war, ihm so persönliche Dinge zu erzählen, doch ich schob die Gedanken beiseite.
„Mein Dad ist kurz nach Josh's Geburt abgehauen, ich war damals 3 Jahre alt. Wir sind also ohne Vater aufgewachsen, was für mich nicht weiter problematisch war, aber gerade Josh hätte jemanden, der die Vaterrolle übernimmt, gut gebrauchen können. Meine Mutter wollte davon nichts wissen. Sie trieb sich rum, ging auf Dates, brachte nur komische, unfreundliche Typen mit nach Hause und wenn wir doch mal einen von denen mochten, hielt der es nie länger als ein paar Monate ist meiner Mutter aus."
Tyler lief ums Sofa rum und setzt sich anschließend ebenfalls hin.
„Verstehe. Und zum anderen?"
Er schien ehrlich interessiert zu sein.
„Ihr passte es nicht, dass ich angefangen habe Literaturwissenschaft zu studieren."
„Hast du das Studium deshalb abgebrochen?"
Mit dieser Frage hatte er gerade bestätigt, dass er sich nicht nur über Josh, sondern auch über mich erkundigt hatte.
Was hatte ich anderes erwartet?
„Nein, das Studium habe ich erst unterbrochen, als..." , ich beendet den Satz nicht.
Er nickte verständlich, bevor er seine kleine Fragerunde weiter fort fuhr. „Du überlegst also weiterzumachen?"
Warum zum Teufel interessierte ihn das überhaupt?
„Ich hatte es in Erwägung gezogen, ja. Aber ich habe meine Chance letzte Woche vertan."
Er runzelte die Stirn, woher sollte er auch wissen wovon ich sprach?
„Das Geld, das ich dir gegeben habe", fing ich an, zu erklären, „War für die Wiederaufnahme meines Studiums gedacht."
Seine Augen weiteten sich, Mitleid spiegelte sich in ihnen. Er öffnete seinen Mund, wollte gerade etwas drauf erwiderten, als es an meiner Tür klopfte.
Wir rissen beide die Köpfe hoch, sahen uns verwundert an. Ich stand auf, ging zur Tür und öffnete sie.
„Was machst du denn hier?", fragte ich erstaunt.
„Es ist mir zwar nicht leicht gefallen, bei so einem grauenhaften Wetter herzukommen, aber nachdem du heute Nachmittag so bedrückt gewirkt hast, musste ich einfach nach dir sehen."
Hatte ich schon erwähnt, dass Elena die beste Freundin war, die man sich wünschen konnte? Ich fiel ihr um den Hals und bat sie rein. Der skeptische Blick, den sie mir kurz darauf zu warf, erinnerte mich daran, dass Tyler noch hier war.
„Wen haben wir denn da?" Sie zog, wie immer, die rechte Braue hoch.
Ich wollte gerade etwas passendes darauf erwidern, als Tyler für mich übernahm.
„Ich wollte sowieso gerade gehen."
Ehe ich mich versah, lief er an uns vorbei, warf mir einen letzten, intensiven Blick zu, den ich nicht einordnen konnte und verschwand durch die Tür. Was war denn das?
Konnte man eigentlich noch unhöflicher sein? Kein Dankeschön, nicht einmal verabschiedet hatte er sich.
Elena sah mich mehr als besorgt an.
„Jessi, was hatte Tyler Warren in deiner Wohnung zu suchen?"
Ich verstand gar nichts mehr.
„Tyler Warren? Woher kennst du seinen Nachnamen?", fragte ich irritiert nach.
„Über den Typen gab's vor 1-2 Jahren mal einen Bericht im Fernsehen, Jessi. Der Kerl hat jemanden umgebracht."
Mir wurde schlecht und ich taumelte ein paar Schritte zurück.
Der Kerl hat jemanden umgebracht.
„Da verwechselst du was, er..."
Sie unterbrach mich. „Ich verwechsle überhaupt nichts. Der Kerl, der eben in deiner Wohnung stand, war Tyler Warren. Ich hab' doch die Narbe in seinem Gesicht gesehen."
Sie lief aufgebracht hin und her, dann, als hätte sie eine Eingebung gehabt, schlug sie die Hände vor den Mund.
„Moment Mal, er ist der Typ, von dem du mir erzählt hast? Der für Daxton Dearing arbeitet und den du angeblich nicht triffst?"
Ich wurde ganz kleinlaut. „Ja. Und ich treffe ihn nicht."

Ein paar Tage waren vergangen, seit Tyler wortlos aus meiner Wohnung verschwunden war. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen und auch, wenn ich froh darüber sein sollte,
dass er mich in Ruhe ließ, fragte ich mich, wieso es so war. Elena und ich hatten noch den ganzen Abend über ihn gesprochen. Sie hatte mir geraten, Josh davon abzubringen, krumme Dinger für Daxton Dearing zu drehen und stattdessen lieber zur Polizei zu gehen, aber das war leider unmöglich. Diese Leute wussten alles über uns, wo wir wohnten, was wir taten, wir würden niemals sicher sein vor ihnen. Der einzige Weg war es, die Sache hinter uns zu bringen und dann nie wieder zurück zu sehen.

Ein neuer Kunde kam ins Café und setzte sich auf einem freien Platz am Fenster.
„Hi, was kann ich Ihnen bringen?", fragte ich freundlich wie immer.
Der Kerl sah zu mir auf und etwas an ihm, erinnerte mich an Tyler. Er war groß, fast genau so riesig, wie Tyler. Er hatte ebenfalls viele Tattoo's, trug dunkle Klamotten und sein Gesichtsausdruck war kühl. Er strich sich über seinen Bart, den ich alles andere als attraktiv fand, dann fing er an zu bestellen.
„Ich nehme einen von euren Brownie's und einen Kaffee. Schwarz."
Etwas an der Art, wie er mit mir sprach, machte mir Angst. Kurz darauf brachte ich ihm seine Bestellung und widmete mich dann anderen Kunden. Er blieb eine Weile und ich spürte stets seine Blicke auf mir.

Als er später bezahlte, steckte er mir extra viel Trinkgeld zu und zwinkerte.
„Grüß deinen Bruder von mir, Jessi."
Ich erstarrte. „Hat Dearing dich geschickt?", erkundigte ich mich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie unheimlich ich die Situation fand.
Er lachte nur und als er sich auf den Weg zu Tür machte, sagte er: „Daxton Dearing hat seine Männer überall."
Verärgert über diese Aussage lief ich ihm nach.
„Weiß Tyler, dass du hier bist?"
Er drehte sich um und in seinen Augen konnte ich sehen, dass er nur darauf gewartet hatte, dass ich Tyler's Namen in den Mund nahm.
Super gemacht, Jessi.

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