Kapitel 15 - Tyler

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Nachdem alle abgehauen waren, war es still. Ich kramte in meiner Jackentasche nach Zigaretten, ich musste dringend eine rauchen, um runter zu kommen.
„Geht es dir gut?", erkundigte ich mich nebenher bei Jess.
Ihre Antwort war ein kaum sichtbares Nicken. Dieser Tag hätte nicht beschissener laufen können. Joshua war beinahe hops genommen wurden, der Cadillac war demoliert, Erin musste ins Krankenhaus und Jess stand verängstigt in dieser verdammten Werkstatt und hatte alles mit ansehen müssen.
Sie ging langsam zu den Werkbänken hinüber und lehnte sich gegen eine von ihnen. Sie sah blass aus, erschöpft.
Ich machte einen Schritt auf sie zu. „Tut dir etwas weh?"
Diesmal bekam ich lediglich ein Schulterzucken von ihr.
Wenn ich eins hasste, dann war es, keine Antwort zu bekommen.
„Wieso redest du nicht mit mir?" Man konnte den genervten Unterton in meiner Stimme hören.
Wieder zuckte sie mit den Schultern, dann sah sie mir ins Gesicht.
„Vielleicht nehme ich mir ja nur ein Beispiel an dir."
Was zum Teufel sollte das denn jetzt bedeuten? Sie schien mir meine Verwirrung anzusehen und sprach weiter.
„Du hast dich in den letzten Tagen nicht ein einziges Mal gemeldet."
Daher weht der Wind.
„Komisch, ich hab' gar nicht gewusst, dass ich dazu verpflichtet war."
Ich wusste ehrlich nicht, was ich davon halten sollte, dass sie augenscheinlich wollte, dass ich mich regelmäßig bei ihr meldete, also zog ich die Sache ins lächerliche. Sichtlich nicht begeistert über meine Antwort, gab sie ein Geräusch von sich, das aus Schnauben und Lachen bestand, und schüttelte den Kopf. Ich hatte schon wieder vergessen, wie zickig sie sein konnte und weil ich im Moment überhaupt keinen Nerv darauf hatte, ließ ich sie stehen und begab mich in die Hinter Räume der Werkstatt. Als ich gefunden hatte, wonach ich suchte, kam ich zurück, und erblickte Jess mit ihrem Handy in der Hand. Es sah so aus, als würde sie jemanden texten. Ich spürte ein ungewohntes Gefühl in mir, wusste aber nicht, was es war, also steuerte ich weiter auf die Blutflecken in der Mitte des Raumes zu und fing an, diese wegzuwischen. Da bereits der Cadillac außerplanmäßig hier zwischengelagert wurde, konnten wir es uns nicht erlauben, dass noch mehr unangenehme Fragen aufkamen. Jess stieß sich von der Werkbank ab, schlenderte ein wenig durch den Raum, ließ mich dabei aber keine Sekunde aus den Augen.
„Dearing hat einfach auf sie eingestochen. Er ist nicht mal in Panik geraten. Ich... ich glaube, es war ihm egal."
Ich war mir nicht sicher, ob Jess das zu mir oder zu sich selbst sagte, doch dann suchte sie meinen Blick.
„Wieso arbeitest du für solche Leute, Tyler?"
Ich schwieg kurz, bevor ich ihr die Wahrheit sagte. „Weil es das Einzige ist, was ich kann."
Ob sie die Aussage verstand, oder nicht, war mir egal. Sie drehte sich von mir weg, rieb sich ihre Oberarme und meinte nur: „Ich will nach Hause."
„Deine Wohnung liegt zu weit weg, wir fahren zu mir."

Gut 20 Minuten später schloss ich die Tür zu meinem Loft auf und wir traten ein. Ich nahm Jess ihre Jacke ab und legte sie, zusammen mit meiner, über die Lehne, von einem meiner Hochstühle am Küchentresen. Danach schnappte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und fragte Jess, ohne in ihre Richtung zu sehen, ob sie ebenfalls etwas trinken wollte, doch sie vereinte. Mit der Flasche an den Lippen drehte ich mir zu ihr um und sah ihr dabei zu, wie sie durch den Raum schlich und sich umsah.
„Schön hast du's hier. Es wirkt ein wenig unpersönlich und es fehlt Dekoration, aber da seid ihr Typen wohl alle gleich."
In wie vielen Wohnungen anderer Männer sie wohl schon gewesen war, um das festzustellen? Ich dachte darüber nach, unterbrach meine Gedanken aber, als mir ihre wunden Knie ins Auge fielen. Ich stellte mein Bier auf dem Tresen ab, ging auf sie zu und wies sie an, mir ins Bad zu folgen. Dort angekommen, durchsuchte ich meine Schänke, Jess stand verunsichert neben mir. Ich blickte zu ihrer kaputten Strumpfhose, dann wanderte mein Blick in ihr Gesicht.
„Zieh sie aus."
Ihre Augen wurden groß und ihre Wangen färben sich rötlich, was ich irgendwie süß fand.
Sie streifte ihre schwarzen Stiefel ab, und begann sich zaghaft aus der Strumpfhose zu schälen. Ich versuchte, sie dabei nicht zu begaffen, zumindest nicht zu offensichtlich.
Dann stand sie mit nackten Beinen, in einem ziemlich kurzem Rock vor mir in meinem Badezimmer und ich verlor fast den Verstand. Ich räusperte mich, deutete auf die Toilette und sagte ihr, sie solle sich setzen. Nachdem ich fündig geworden war, hockte ich mir vor ihr hin.
Sie hatte kleine, schmale Füße, ihre Zehen waren rot lackiert, dieselbe Farbe, die sie auch auf den Fingernägeln trug.
Ich griff nach der Flasche mit dem Desinfektionssprey und nahm mir einen Tupfer, meine Augen suchten ihren Blick. „Darf ich?"
„Ja", flüsterte sie.
Ich sprühte je einen Pumpstoß auf ihre aufgeschürften Knie, wischte dann sanft das Blut und den Schmutz ab. Mir war bewusst, dass es höllisch brannte, aber Jess biss die Zähne zusammen und gab keinen Mucks von sich. Im Anschluss trug ich eine dünne Schicht Salbe auf ihre Wunden. Jess beobachtete mich, ich spürte ihre Blicke auf mir und bemerkte, wie sie ihre Schenkel noch enger zusammen presste.
„Alles wie neu." Mit diesen Worten, schloss ich meine kleine Behandlung ab und richtete mich wieder auf.
Sie hob ihren Kopf an und lächelte schüchtern. „Danke."
Mir wurde bewusst, wie viele Facetten dieses Mädchen hatte. Die meiste Zeit war sie mutig, nicht auf den Mund gefallen, stand zu ihrer Meinung, stellte das Wohlergehen anderer, über ihr eigenes. Manchmal war sie aufmüpfig, manchmal zickig, stur und fest von ihrem Recht überzeugt und dann war da noch diese andere Seite von ihr, ihre verletzliche Seite. Sie wurde kleinlaut oder schwieg. Schüchternheit lag in ihrem Blick, Unsicherheit spiegelte sich in ihrem Verhalten. Ich ertappte mich selbst dabei, wie ich mir wünschte, noch viel mehr über sie herausfinden wollte.
Ich reichte ihr meine Hand, half ihr beim Aufstehen. Sie sah zu mir auf, unsere Augen verloren sich ineinander.
„Wird Erin wieder gesund?", fragte sie mit leiser Stimme.
„Natürlich." Ich lächelte sie an, doch sie erwiderte das Lächeln nicht.
„Ich hatte solche Angst, Tyler", gestand sie mir, während sich Tränen in ihren Augen sammelten.
„Ich weiß."
Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und lief ihr die Wange hinab. Ich legte meine rechte Hand an ihr Gesicht und wischte sie mit meinem Daumen fort. Ohne über mein Handeln nachzudenken, senkte ich meinen Kopf und küsste sie. Ihre Lippen waren warm und weich, ein kaum hörbares Seufzen entwich ihr, als sie den Kuss erwiderte. Ich könnte nicht erklären, was mit meinem Körper passierte, doch etwas veränderte sich. Ich löste mich von ihr, konnte mit dem
wohligen Gefühl, das mich überkam, nicht umgehen. Ich wollte damit auch gar nicht umgehen können. Gefühle führten ausschließlich zu Problemen.
„Du sollest dich ausruhen", sagte ich.
Ich wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, aber auch wenn ich genau das mit meiner Reaktion getan hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie nickte lediglich.
Ich zeigte ihr meinen Schlafbereich, den man über eine Treppe, bestehend aus wenigen Stufen, erreichte. Er befand sich auf einer kleinen, offenen Erhöhung, von der aus man das gesamte Loft überblicken konnte. Verunsichert blieb sie vor meinem Bett stehen.
„Keine Sorge, das Bett ist frisch bezogen."
Wieder nickte sie, dann krabbelte sie hinein. Sie wirkte so winzig in meinem riesigen Bett, dass ich schmunzeln musste. Ich stellte ihr noch eine Flasche Wasser auf den Nachtisch.
„Wenn was ist, ich bin unten."
Nochmals bedankte sie sich, dann verschwand ich.

Meine Gedanken spielten verrückt. Unter anderen Umständen wäre auf meine Ducati gestiegen und drauf losgefahren, aber ich wollte Jess nicht alleine lassen, daher fiel die Idee schon einmal flach. Um also einen halbwegs klaren Kopf zu kriegen, sprang ich unter die Dusche und ließ kaltes Wasser über meinen Körper fließen. Ich wusste, dass es falsch gewesen war, sie zu küssen. Es hat sich zwar nicht falsch angefühlt, dennoch war es ein Fehler. Das Gefühl von ihren weichen Lippen auf meinen wurde ich trotzdem nicht los.
Nachdem ich geduscht hatte, kramte ich in meinem Kühlschrank nach etwas Essbarem. Durch die vielen Ereignisse des Tages war ich seit dem Frühstück nicht mehr zum Essen gekommen, jedes Mal hatte mich irgendeine Sau gestört. Dementsprechend groß, war mein Kohldampf.
Da im Kühlschrank bedauerlicherweise gähnende Leere herrschte, warf ich einen Blick ins Tiefkühlfach und mache eine Tunfischpizza aus. Ich schob sie in den Ofen und rief in der Zwischenzeit Hunter an, um mich zu erkundigen, ob Joshua noch lebte, und wenn ja, ob sich eine Lösung für das Dilemma ergeben hatte.

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