Kapitel 1 - Tyler

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„Deine Sachen." Billy deutete auf eine Box, die vor uns auf dem Tresen stand.
Mit einem Kopfnicken nahm und öffnete ich sie, sammelte meinen Scheiß ein und achtete darauf, dass nichts fehlte. Unweigerlich musste ich an jenen Tag zurückdenken, an dem sie mir Alles genommen hatten. Mein Blick fiel auf die silberne Halskette in meiner Hand, was mich inne halten ließ. Nicht einmal die hatten sie mir gelassen.
Solche Wichser.
Kurz schloss ich die Augen und atmete tief durch, dann legte ich mir die Kette um den Hals, zog mir die Lederjacke über und stieg in meine schwarzen Stiefel. Die Papiere für meine Entlassung lagen ebenfalls auf dem Tresen. Ich griff nach einem der Stifte im Aufbewahrungsbehälter und unterschrieb. Anschließend gingen wir schweigend durch den unendlich lang wirkenden Gang, der zu dem einzigen Hindernis führte, was noch zwischen mir und meiner neugewonnenen Freiheit lag. Die schwere Metalltür öffnete sich automatisch, nachdem Billy den Sicherheitscode eingegeben hatte.
Endlich.
„Vergiss nicht, dich morgen gleich als erstes bei deinem Bewährungshelfer zu melden." Er reichte mir eine Visitenkarte.
Ich nahm sie und steckte sie mir, ohne einen Blick darauf zu werfen, in meine Hosentasche.
„Schon klar, Meister." Ich erhob meinen Blick und sah ihm ins Gesicht.

Billy war Leiter meines Traktes, aber trotzdem mit Abstand derjenige, der mir während meiner Zeit hier am wenigsten auf den Sack gegangen war. Wenn so viele Arschlöcher, die größtenteils auch noch Vollidioten und dumm wie Brot waren, 24 Stunden auf einem Haufen saßen, konnte man kaum anders, als wahnsinnig zu werden. Um nicht völlig durchzudrehen, fing ich also an, mich mit ihm zu unterhalten. Er erfüllte zwar das Klischee vom Donut fressendem Fettsack, aber ansonsten war er ganz nett.

„Tja dann..." Ich klopfte ihm auf die Schulter, er tat es mir gleich. „Ich schätze, wir sehen uns."
„Das hoffe ich nicht", meinte er und lachte.
Mir entfloh ein Grinsen. „Wie auch immer." Ich wandte mich von ihm ab. „Mach's gut." Dann ging ich durch die Tür.
„Bleib sauber und pass auf dich auf, Tyler", rief er mir nach.
Ich sah nicht zurück.

Ich lief ein paar Blocks, zog die New Yorker Luft in meine Lunge. Gott, wie hatte ich das vermisst.
Da ich weder Kohle für ein Taxi hatte, noch jemanden anrufen konnte, steuerte ich auf die nächsten Subway Station zu und nahm die Bahn. Die Fahrt von Manhattan nach Brooklyn dauerte nicht länger als 30 Minuten und doch kam es mir vor wie eine verdammte Ewigkeit. Eine Sache die ich mit Sicherheit nicht vermisst hatte. Meine Mitmenschen. Die hatte ich auch schon vor meiner Zeit im Bau gehasst. Sie drängelten, waren laut, waren hektisch. Sie stanken nach Schweiß. Manchmal waren es auch Alkohol, Scheiße oder Pisse. Es gab nichts, was es nicht gab. Und sie starrten. Klar, ich war groß, breit und gut aussehend. Man konnte es ihnen kaum verübeln. Gut, meine Tattoos und die Narbe unter meinem rechten Auge trugen vermutlich auch dazu bei, aber fuck, es nervte mich einfach.
„Was gibt's da zu glotzen?", blaffte ich eine Mutti an, deren Augen daraufhin noch größer wurden, als sie ohnehin schon waren.
Ich konnte es kaum erwarten, wieder aus dem stickigen Waggon zu steigen. Und doch, je näher ich mich meinem Ziel näherte, desto unwohler wurde mir. Sobald wir den anderen Teil der Stadt erreicht hatten, hatte mich mein altes Leben wieder. Ich dachte an Billy's Worte.
„Bleib sauber."
Als ob ich das könnte.

„Nächster Halt: Coney Island-Stillwell Avenue Station."
Die Zugansage riss mich aus meinen Gedanken.
Da waren wir also.

Ich ging einen Augenblick, bis ich letztendlich in die Straße abbog, in der ich lebte. Ich ließ meinen Blick schweifen, stellte fest, dass sich nichts verändert hatte. Alles war noch so trostlos wie damals. Vor dem Gebäude, in dem mein Loft lag, blieb ich stehen. Es parkten immer noch dieselben alten Rostlauben davor. Die Tatsache, dass ich keine fremden Autos erkennen konnte, lies darauf schließen, dass während meiner Abwesenheit keine neuen, unerwünschten Nachbarn eingezogen waren. Hoffentlich.
Ich kramte die Schlüssel aus meiner Jeans und schloss die Eingangstür, sowie kurz darauf auch die Tür zu meinem Apartment auf. Ich trat ein, entledigte mich im Gehen meiner Jacke und legte mein Portemonnaie und das Bund Schlüssel auf den Tisch neben mir ab. Dann sah ich mich um. Alles war genauso, wie ich es zurückgelassen hatte. Überall lag Zeug rum. Klamotten hingen über die Lehne des großen Ledersofas, benutze Kaffeebecher standen in der Spüle und das Bett war zerwühlt. Zu meiner Verwunderung lag jedoch kein muffiger Geruch in der Luft.
Nach meinem Rundgang schnappte ich mir als erstes das Ladekabel für mein Handy und steckte es in die Steckdose an der Küchenzeile. Danach schlenderte ich rüber zum Sofa und ließ mich seufzend nieder. Ich griff nach der Zigarettenschachtel, die auf dem Couchtisch lag und zündete mir eine an. Ich inhalierte den Rauch und fing an, mich das erste Mal an diesem Tag zu entspannen.

„Du bist wieder da", erklang eine Stimme.
In der Tür stand der alte McCane. Er war seit Jahren mein Vermieter und seines Zeichens, Herr über die Schlüssel. Er hatte noch nie ein Problem damit gehabt, sich selbst herein zulassen.
„Sieht ganz danach aus, alter Mann." Ich grinste.
Er kam rein und setzte sich neben mich auf die Couch. Auch er steckte sich eine Kippe an. Ich beobachtete ihn dabei. Seine Haut war noch faltiger geworden, sein Haar noch grauer. Fast Weiß. Seine Hand zitterte, als er das Feuerzeug betätigte.
„Ich habe ab und an hier gelüftet."
Ich lehnte mich zurück. „Ist mir aufgefallen."
„Wie ist es dir in den letzten 2 Jahren ergangen?", wollte er wissen.
Ich überlegte, was ich ihm darauf antworten sollte. „Hatte viel Zeit zum Nachdenken."
Er lachte leise. „Und? Zu welchem Entschluss bist du gelangt?"
Meine Antwort blieb aus. Er verstand und ließ die Sache auf sich beruhen, wofür ich ihm dankbar war.
„Dein Freund, dieser Bärtige, war ein paar Mal hier und hat sich erkundigt, wie es mir geht." McCane schüttelte leicht den Kopf. „Das wäre nicht nötig gewesen, Tyler. Ich bin alt, nicht sterbenskrank."
Ich musste schmunzeln. „Ich weiß nicht, was du meinst."

Ich hatte dem Bärtigen, dessen Name übrigens Hunter war, aufgetragen, von Zeit zu Zeit nach dem Alten zu sehen. Hunter war ein korrekter Typ und ein loyaler Freund. Wenn ich so recht überlege, war er sogar mein einziger richtiger Freund. Er und ich kannten uns mittlerweile seit über 10 Jahren. Wir haben uns kennengelernt, als wir noch Teenager waren. Damals lag das Haus, in dem er mit seiner Familie wohnte, neben dem meiner Pflegeeltern. Wir freundeten uns schnell an, verloren uns dann aber aus den Augen, als ich zur nächsten Pflegefamilie weitergereicht wurde. Tja, was soll ich sagen, eine schöne Kindheit sah anders aus. Jedenfalls trafen wir uns wieder, als ich anfing für Daxton Dearing in dessen Bar zu abreiten.
Hunter hatte mich in den letzten Monaten hin und wieder im Kittchen besucht und mich auf dem Laufenden gehalten. Dass die Möglichkeit bestand, vorzeitig auf Bewährung entlassen zu werden, hatte ich ihm allerdings verschwiegen. Weshalb, weiß ich selber nicht genau. Ich denke, ich wollte nicht darüber reden bis die Sache in trockenen Tüchern war. Vielleicht wollte ich ihn vor einer Enttäuschung bewahren. Oder mich selbst.

„...ihm gemeldet?"
Ich hatte aufgehört dem alten Mann zuzuhören. „Sorry, was hast du gesagt?", erkundigte ich mich.
„Ob du dich schon bei ihm gemeldet hast? , wiederholte er.
„Nein, mein Telefon war tot. Ich ruf ihn gleich an."
„Mach das, ihr habt sicher eine Menge nachzuholen."
Oh ja, soviel stand fest.
Er erhob sich und schlenderte zu Tür. „Ich werde jetzt meinen Mittagsschlaf machen. Grüß ihn von mir und wenn ihr nachher auf deine Freiheit anstoßt, trink einen für mich mit."
Er kannte uns besser, als man denken mochte.
„Darauf kannst du einen lassen, alter Mann." Ich lachte trocken und nickte ihm zu. „Man sieht sich."
Seine Hand lag bereits auf der Türklinke, als er sich nochmal zu mir umdrehte. „Schön, dass du wieder da bist, mein Junge."
Dann verschwand er und ich fing an zu lächeln. Glaube ich.

Als ich endlich Hunter's Nummer wählte, hatte ich bereits geduscht, mich rasiert und saubere Klamotten angezogen. Nichts geht über eine schöne, geräumige Dusche für sich alleine. Die beschissenen Gemeinschaftsduschen waren der letzte Dreck und an der Story über das Stück Seife, war wahrhaftig was dran. Scheiße nochmal, keine Ahnung wie viele Typen mir in den letzten 24 Monaten Nuancen gemacht hatten und wie oft ich kurz davor stand, meine Faust in ihre Visagen zu rammen. Ekelhaft. Ich meine, versteht mich nicht falsch, wer drauf steht, bitte...
Aber mein Arsch stand dafür nun mal nicht zur Verfügung.
Unweigerlich wanderten meine Gedanken zu einer ganz anderen Kehrseite.
Mindy.
Ich hatte ihren knackigen, großen Hintern vor Augen und ihre noch größeren Titten.

„Ty, bist du's?", meldete sich Hunter am anderen Ende der Leitung.
„Wer soll es sonst sein, Alter? Natürlich bin ich es."
„Scheiße, wieso hast du nichts gesagt? Seit wann bist du draußen?"
„Seit heute." Man konnte das Grinsen in meiner Stimme hören.
„Wo bist du?", fragte er euphorisch.
„Im Loft."
Ich hörte ein Rascheln.
„Ich lag bis eben noch im Bett. Gibt mir 20 Minuten."
Ich sah zur Uhr. 13:30 p.m. „Lange Nacht gehabt?", neckte ich ihn.
„Nicht so, wie du denkst, Bruder. Zum Vögeln hatte ich leider keine Zeit."
„Apropos Vögeln. Wie geht's Mindy?"

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