Kapitel 8 - Jessica

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Wie konnte ich nur so blöde sein und mich von Tyler nach Hause fahren lassen? Er war ein Geldeintreiber und Schläger, höchstwahrscheinlich war er auch noch anderweitig kriminell unterwegs und nun kannte er meine Adresse.
Super gemacht, Jessi.
Wenn ich so recht darüber nachdachte, war es gut möglich, dass er meine Anschrift bereits vorher kannte. Er wusste, wo Josh und Benton wohnten, er wird sich Info's über meinen Bruder eingeholt haben, bevor er zu ihm gefahren und ihn zusammen geschlagen hatte. Gott, er hatte ihn zusammen geschlagen und mir fiel nichts Besseres ein, als ihn, erneut, in der Bar aufzusuchen und anschließend einen Spaziergang mit ihm zu machen. Ich musste dringend mit Josh reden, aber nicht mehr heute Abend, dazu war ich viel zu sehr durcheinander. Und er zu angeschlagen. Die Ironie darin lag, dass ich losgefahren war, um Antworten zu bekommen und nun lag ich hier, in meinem Bett und war ahnungsloser, als je zuvor. Es war schon nach Mitternacht, doch ich wälzte mich hin und her und fand keinen Schaf. Ich dachte an Tyler, den Ausdruck in seinem Gesicht, als er mir seine Lederjacke hingehalten hatte. In meiner Eile hatte ich vergessen, mir eine Jacke über zuziehen und fror deshalb, was ihm aufgefallen zu sein schien. Seine Jacke hatte unheimlich gut gerochen. Nach ihm, seinem herben Parfüm und ein wenig nach Rauch. Daraus schloss ich, dass er Raucher war.
Hör auf, an ihn zu denken.

Meinen nächsten Tag verbrachte ich zu Hause. Ich hatte frei, also schlief ich etwas länger und lief den gesamten Vormittag in Pyjama und dicken Kuscheln Socken rum. Nachdem ich
mir ein ausgewogenes Frühstück zubereitet hatte, was in Wirklichkeit nur aus Cornflakes und Milch bestand, war es an der Zeit meinen Bruder anzurufen. Ich wählte seine Nummer, er nahm nach dem dritten Klingeln ab, gesagte aber nichts.
„Wie geht's dir?", begann ich das Gespräch.
„Ganz in Ordnung. Wieso kommst du nicht vorbei, wenn es dich interessiert, wie es mir geht?"
Mit einem Mal waren die Wut, die ich gestern Abend gespürt hatte und das Unverständnis über die Situation, in der mein Bruder stecke, wieder voll präsent.
„Weil ich dir vermutlich auch eine reinhauen würde, wenn du vor mir stehst, Joshua." Ich brachte es auf den Punkt, während er weiter schwieg.
„Willst du mir nicht wieder eine neue Geschichte auftischen, Brüderchen? Ich bin gespannt, was du dir diesmal einfallen lässt."
„So war das alles nicht, Jessi."
„Ach, nein? Wie war es denn dann? Was hast du mit dem Geld gemacht, hm? Oder war die Sache mit dem Gewinn auch gelogen?" Ich hatte so viele Fragen, auf die nur er die Antwort wusste.
„Wir haben die Kohle wirklich gewonnen, dass musst du mir glauben."
„Und wo ist das Geld jetzt?"
„Ich hab's verzockt, Jessi."
Ich glaube, hätte ich nicht schon gesessen, hätte ich mich spätestens ab diesem Punkt, setzten müssen. Unfassbar.
„Ich werde jetzt auflegen", ließ in ihn wissen, doch kurz bevor ich auf den roten Hörer drückte, kam noch etwas von ihm.
„Es tut mir so leid, Jessi. Ich weiß, dass ich ein totaler Versager bin und du jeden Grund hast, mich zu hassen."
Mein Herz zog sich zusammen.
„Ich hasse dich nicht, Josh. Ich weiß nur nicht, wie es weiter gehen soll. Du hast Schulden
und du bist spielsüchtig. Ich weiß gar nicht, was davon schlimmer ist."
Josh gestand mir, dass er Angst davor hatte, wieder Besuch von Tyler zu bekommen, woraufhin ich ihm von gestern Abend erzählte. Er war nicht gerade begeistert darüber, dass seine große Schwester, so wie es nannte, um Gnade gebettelt hatte, doch er sah ein, dass es keinen anderen Weg mehr gab. Kurz darauf beendeten wir das Telefonat.

Am Abend saß ich, immer noch mit meinen kuscheligen Socken, dafür aber frisch geduscht, auf meinem Sofa, aß Ben & Jerry's Eis und sah mir irgendeinen Scheiß in Fernsehen an. Ich war frustriert, in was für eine Richtung mein Leben binnen einer Woche gelenkt wurde. Noch vor ein paar Tagen, sah ich eine Chance, wieder an die Uni zu gehen, wurde ich ermutigt mein Studium fort zu führen, und jetzt, seht mich an.
Vor 3 Jahren hatte ich begonnen, Literaturwissenschaft zu studieren. Ich liebte die Literatur, ich begeisterte mich fürs Lesen, die Autoren. Ich schrieb sogar an eigenen Sachen doch das änderte sich, als meine Mutter starb und ich mein Studium pausierte. Ich hatte aufgehört, zu lesen, schrieb nicht weiter an meinen Geschichten. Ich hatte so viele Ideen, doch ich brachte sie nicht mehr zu Papier, weil ich mich fragte, wofür.
Jetzt stellte ich mir die Frage, wieso eigentlich nicht?
In einem Anflug von Euphorie stelle ich meinen Eisbecher beiseite, zog mir meinen Laptop auf den Schoß und begann zu tippen. Inspiriert von den Ereignissen der letzten Tage, fing ich also an, zu schreiben, schrieb mir meinen Kummer von der Seele. Ich ließ Gedanken und geheime Wünsche mit einfließen und füllte so, die leeren Seiten mit dem Anfang einer neuen Geschichte. Bis in die späte Nacht hinein, fasste ich, all das, was mir in den Sinn kam, in Worte und schrieb sie nieder.
Als ich bemerkte, wie spät es bereits war, zwang ich mich, den Laptop zuzuklappen. Ich räumte noch rasch das Geschirr indie Spülmaschine, schaltete den Fernseher aus und machte ich bettfertig. Ich würde es morgen früh bereuen, so lange wach geblieben zu sein, aber das war es wert.
In dieser Nacht hatte ich keine Schwierigkeiten einzuschlafen.

Am nächsten Tag im Café, hätte ich im Stehen einschlafen können, so müde war ich gewesen. Da wir glücklicherweise viel zu tun hatten und ich nicht gelangweilt in der Gegend rum saß, hatte meine Müdigkeit keine Gelegenheit mich zu übermannen. Ich nahm in einer Tour Bestellungen auf und servierte sie anschließend. Der Himmel war grau, das Wetter war in den letzten Tagen umgeschwungen und der Wetterbericht sagte für heute noch Gewitter an. Daher verirrten sich viele Kunden zu uns ins Café, um Unterschlupf vor den vereinzelten Regentropfen zu suchen. Ich wollte gerade meine Mittagspause beginnen, da kam Benton ins Bistro geschneit. Mit einem weniger erfreuten Gesichtsausdruck kam er auf mich zu.
„Beschissenes Wetter. Und gerade heute verleih ich meine Karre, ich freu mich."
Er deutete grimmig aufs Fenster, dann zog er mich zur Begrüßung in eine Umarmung. „Hey, Jessi."
„Hey. Seit wann verleihst du dein Auto?", fragte ich verwundert nach.
„Seit Josh mich drum gebeten hat. Er meinte, er müsste dringend irgendwo hin."
Ich wurde hellhörig. „Ach echt? Hat er gesagt, wohin?"
„Nein, keine Ahnung. Aber ich schätze, es hat etwas mit Dearing zu tun. Er hat heute Morgen einen Anruf erhalten und war danach komisch drauf."
Jetzt machte ich mir Sorgen. „Er war komisch drauf, ja?", bohrte ich skeptisch weiter nach.
„Mann, Jessi, du kennst ihn doch selber. Er ist nicht gerade der redseligste Typ, wenn's um so ne' Sachen geht."
„Ja genau, um so ne' Sachen. Oder wenn es darum geht, dass er sich mit diesen verdammten Wetten in den Ruin treibt. Das muss aufhören, Benton. Wenn du ihn nicht zur Vernunft bringst, dann tu ich es."
Ihm passte es nicht, dass ich das Thema ansprach, oder es war ihm unangenehm, jedenfalls winkte er ab.„Er macht das schon. Kann ich jetzt einen Bagel zum Mitnehmen bekommen? Ich muss weiter."

Nachdem Benton gegangen war schrieb ich meinen Bruder eine Nachricht.

Jessica:
Wofür brauchst du Benton's Auto? Wo bist du?

Josh:
Ich treffe mich mit Daxton Dearing.
Er hat einen Deal vorzuschlagen.

Jessica:
Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?

Josh:
Ich denke, dieser Tyler hat Wort gehalten.
Es ist alles gut, ich melde mich später.

Jessica:
Pass bitte auf dich auf, Bruderherz.

Tyler hat Wort gehalten.
Konnte das wirklich wahr sein? Von was für einem Deal war hier die Rede? Ich konnte nur hoffen, dass Josh in Dearing'sBar aushelfen sollte, um so seine Schulden abzuarbeiten. Zumindest sowas in der Richtung. Hauptsache er wurde nicht in noch größere Schwierigkeiten hineingezogen.
Meine Müdigkeit wurde durch Nervosität ersetzt. Ich machte mir Sorgen um meinen Bruder, konnte mich kaum noch konzentrieren. Hoffentlich nahm das alles bald ein Ende.

Am Nachmittag erschien Elena zu ihrer Schicht im Bistro.
Ihre langen, braunen Haare waren zerzaust vom Wind und ihr Pony stand in alle Himmelsrichtungen.
„Ich hasse den Herbst. Kann nicht einfach für immer Sommer sein?", nörgelte sie rum und ging nach hinten, um sich umzuziehen.
Nach wenigen Minuten kam sie zurück und mustere mich, während sie die Schlaufen ihrer Schütze hinter ihrem Rücken zur Schleife band.
„Ich kann verstehen, dass das Wetter deprimierend ist, Süße. Aber du guckst, als ob jemanden deinen Hund überfahren hätte."
„Ich habe nicht mal einen Hund."
„Was ist es dann, hm?"
Die unendliche Geschichte, dachte ich, sprach es aber nicht aus.
„Ich hab einfach nur Kopfschmerzen, mehr nicht", redete ich mich raus.
Ich hatte es satt, ihr immer wieder erzählen zu müssen, wie oft mein eigener Bruder mich anlog.
„Und das hat nicht zufällig wieder etwas mit Josh zu tun?" Sie hob die rechte Braue.
„Doch, zufälligerweise schon."

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