Kapitel 4 - Jessica

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„Wer ist an der Tür?", rief ich meinem Bruder aus der Küche zu.
Mit 2 Gläsern Limo in den Händen schlenderte ich zum Flur hinüber. „Josh, komm schon, das Essen wird...", blieben mir die Wörter im Halse stecken.
Die Gläser fielen auf den Boden und zersprangen. Der Inhalt ergoss sich über meine Sneaker. Kurz dachte ich, ich halluziniere. Im Flur meines Bruders stand der Unbekannte von gestern Nacht. Er wirkte düsterer, als in meiner Erinnerung, was wahrscheinlich daran lag, dass er komplett schwarz gekleidet war. Gewaltsam drängte er Josh gegen die Wand. Als mein Blick auf das Messer in seiner Hand fiel, zog ich scharf die Luft ein und presste mir die Hand auf meinem Mund. Beide starrten mich entgeistert an.
„Was ist hier los?", fand ich den Mut zu fragen.
„Nichts", presste Josh hervor. „Geh zurück ins Wohnzimmer."
Ich sah erst zu meinem Bruder, dann zu dem Typen aus dem Club.
„Jessi, geh' ins Wohnzimmer", wies mich Josh erneut an.
Ich dachte nicht dran.
„Du solltest auf ihn hören, Blondie", mischte sich das tätowierte Arschloch ein und entlockte mir damit ein Schnauben.
„Was hast du angestellt, Josh?" Ich wollte Antworten haben.
„Los, erzähl es ihr, Joshua."
Ich suchte Josh's Blick, doch er schwieg.
„Josh", setzte mein vermeintlicher Retter an und betone bewusste den Spitznamen meines Bruders, „Hat sich einen Haufen Kohle geliehen und anscheinend vergessen, sich zu
notieren, wann die Rückzahlung fällig ist. Also bin ich hergekommen, um ihn daran zu erinnern."
Er rammte meinem Bruder die Faust in den Magen. Josh krümmte sich und stöhnte.
„Oh Gott, nein!", schrie ich auf und lief auf die beiden zu. „Bitte tu ihm nicht weh" fehlte ich, als er zum nächsten Schlag ausholte. „Bitte!"
Er hielt inne und unsere Blicke trafen sich. Etwas blitze in seinen Augen auf. Gott, diese wunderschönen Augen. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter.
„Jessi, bitte geh." Josh versuchte, mich hinter sich zuschieben.
Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, aber ich gab nach. Ich schaute meinem Bruder ins Gesicht und legte ihm meine Hand an die rechte Wange. Anschließend drehte mich um und sah den fremden Kerl noch ein letztes Mal bittend, fast schon verzweifelt, an. Dann verschwand ich im Wohnzimmer.
Ich wartete ab und lauschte. Doch nichts passierte. Keine lauten Diskussionen, kein Stöhnen oder Keuchen. Ich atmete erleichtert auf.
„Ich zahle euch das Geld zurück, ich brauche nur noch ein bisschen mehr Zeit", erklang Josh's reumütige Stimme. „Ich versprech's."
Ich hörte den tätowierten Typen trocken auflachen. „Jetzt fang bloß nicht an, zu heulen, du verdammte Pussy." Er machte eine Pause, bevor er weitersprach. „Du kannst froh sein, dass ich nicht auf Zuschauer steh. Ende der Woche sehen wir uns wieder, wenn du die Kohle dann nicht hast, breche ich dir deine Knochen, das verspreche ich dir."
Ein dumpfer Schlag ertöne, mein Bruder jaulte auf und kurz darauf fiel die Tür ins Schloss.
Ich rannte zu Josh, der nach vorne gebeugt da stand und sich mit einer Hand an der Wand neben ihm abstützte.
„Mein Gott, Josh, ist alles in Ordnung?" fragte ich besorgt.
Er winkte ab. „Alles gut, Jessi. Ich brauch nur kurz 5 Minuten." Er verschwand in sein Zimmer.
Alle Anspannung fiel mit einem Mal von mir ab und ich atmete tief durch. Erst jetzt bemerkte ich das Chaos auf dem Fußboden des Flures. Rasch holte ich einen nassen Lappen aus der Küche, begann die Limo aufzuwischen und sammelte die Scherben ein. Im Wohnzimmer räumte ich die inzwischen kalt gewordenen Nudeln, die ich für Josh und mich gekocht hatte, vom Tisch ab. Dann setzte ich mich hin.
Kurze Zeit später kam mein Bruder und nahm ebenfalls Platz.
„Von wem hast du dir Geld geliehen, Josh?"
„Von Daxton Dearing", gab er mir einen Namen.
Ich hatte von ihm gehört, irgend so ein zwielichtiger Typ. Er gab schon mehrere Zeitungsberichte über ihn und seine kriminellen Machenschaften. Die Polizei schien jedoch nicht genügend gegen in der Hand zu haben, denn zu einer Verhaftung kam es bisher nie.
„Wofür brauchtest du sein Geld?"
„Tja, weißt du, Benton und ich..."
Oh nein, eine Geschichte, die so anfing, konnte nur in einer Katastrophe enden. Benton und mein Bruder waren seit ihrer Kindheit unzertrennlich. Bereits im Alter von 10 Jahren, hatten die Beiden mehr Blödsinn angestellt, als all ihre Klassenkameraden zusammen. Ich, als große Schwester, hatte stets die Aufgabe gehabt, ein Auge auf meinen kleinen Bruder zu werfen. Obwohl ich nur 3 Jahre älter war als er. Jedenfalls war es nie leicht gewesen, ihm seinen Unfug auszureden, geschweige denn, ihn davon abzuhalten. Das hatte sich bis heute nie geändert. Benton und er waren vor ein paar Jahren in diese Wohnung hier gezogen und lebten seither als Wohngemeinschaft. Benton kam aus einer gutbetuchten Familie, zumindest besser betucht, als unsere es war. Er hatte sich in seinem Leben bisher nie viele Sorgen machen müssen. Es klappte nicht mit einem Job oder er gefiel ihm nicht mehr?
Kein Problem, dann suchte er sich eben einen anderen. Er fand keinen anderen Job? Kein Problem, Mommy und Daddy zahlten, bis er einen fand. Was ich damit sagen wollte war, dass dieses Verhalten auf Josh abfärbte. Als unsere Mutter noch am Leben war, hatte sie uns regelmäßig Geld zukommen lassen. So viel, dass wir gut damit klar kamen und auch etwas davon beiseitelegen konnten. Aber die Dinge änderten sich nun mal. Mein Bruder arbeitete zwischendurch in verschiedenen Werkstätten, schraubte an Autos rum und reparierte sie, aber er behielt die Stellen dort nie lange. Als große Schwester, sah ich mich verantwortlich, ihn zu unterstützen, bis er seinen Weg gefunden hatte und somit versorgte ich, an Stelle meiner Mutter, ihn mit zusätzlichem Geld. Ob ihm bewusst war, dass ich mein Studium wegen ihm auf Eis gelegt und angefangen hatte Vollzeit zu arbeiten, weiß ich nicht.
„Wir haben zusammen mit ein paar Kumpels vor eigenen Wochen so ein Wettbüro ausgemacht", setzte Josh seine Erklärung fort.
Oh nein.
„Da läuft alles voll korrekt ab. Dylan und Mason, die kennst du doch oder, die haben beide schon mehrmals ordentlich Kohle gewonnen. Wenn du die richtige Wette am Laufen hast, ist das ne' sichere Sache, Jessi."
Das konnte nicht sein Ernst sein.
„Du wettest?", fragte ich ungläubig nach. „Du verarscht mich, oder? Sag mir, dass du mich verarschst!" Ich wurde wütend.
„Nein, ich mein es ernst. Zwar haben Benton und ich bisher noch nichts Großes gerissen aber..."
„Genau da liegt der Punkt, Joshua" unterbrach ich ihn. „Es ist Glücksspiel. Du musst Glück haben, um zum Gewinnen. Weißt du, wie gering die Chancen stehen, das große Geld zu machen? Das ist Wahnsinn. Du verprasst unnötig dein Geld und die Wettmacher stopfen sich die Taschen voll."
Er sagte dazu nichts. Ich stand auf und lief im Wohnzimmer auf und ab. „Wie hoch sind deine Schulden?" Ich wartete gespannt auf seine Antwort.
Er hob den Blick, bevor er mir, ganz kleinlaut, die Summe nannte.
„2000$? Gott Josh! Bist du von allen guten Geistern verlassen?", fuhr ich ihn an.
„Ich habe das als Chance gesehen. Nicht nur für mich, Jessi, auch für dich. Wegen deinem Studium und so, du weißt schon."
In der ersten Sekunde, fand ich es lieb von ihm, auch an mich gedacht zu haben, aber dann hielt ich mir wieder vor Augen, in was für einen Schlamassel er sich damit gebracht hatte. Er hatte Schulden bei Daxton Dearing. Der Typ aus der Bar war Geldeintreiber. Ein verdammter Geldeintreiber war hier gewesen. Ich weiß nicht genau, wie so etwas abläuft, aber in Filmen werden den Schuldnern immer die Ohren abgeschnitten. In mir zog sich alles zusammen.
„Das mit dem Studium kann ich jetzt vergessen."
Josh sah mich verwirrt an.
„Na, du hast das Geld doch nicht, oder?"
Er schüttelte den Kopf.
„Ich habe ein paar Rücklagen, die waren für die Wiederaufnahme des Studiums gedacht. Wenn ich zusätzlich Roberta frage, ob ich meine Überstunden der letzten Monate eventuell ausbezahlt bekommen kann, anstatt dafür freie Tage zu erhalten, sollte ich die Summe zusammen kriegen."
Mein Bruder schob seinen Stuhl zurück und sprang auf. „Nein, ich brauche deine Hilfe nicht. Lass mich das erledigen und halte dich da raus", widersprach er mir.
„Wie bitte?"
„Du sollst dich raushalten, Jessi." Seine Stimme wurde lauter. „Ich habe mir das selber eingebrockt, also bade ich es selber wieder aus."
„Wo willst du das Geld hernehmen?", patzte ich zurück.
„Was weiß ich, Ich werde mir schon was einfallen lassen. Dein Geld will ich jedenfalls nicht haben."
Seit wann redete er in diesem Ton mit mir? Ich ging zur Couch, griff mir meine Handtasche und machte mich auf den Weg zur Tür. Ich musste hier raus. Josh lief mir nach und raufte sich frustriert seine braunen, kurzen Haare. „Jessi, jetzt warte doch mal."
„Tut mir leid, ich kann dich heute nicht mehr sehen. So undankbar warst du früher nicht, Josh." Ich sagte ihm meine Meinung und verließ die Wohnung.
Im Flur traf ich auf Benton, der gerade vom Training zu kommen schien. Sein Gesicht war rot, nasse blonde Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht. „Hey Jessi, du gehst schon?", begrüßte mich der beste Freund meines Bruders.
„Wusstest du von Josh's Schulden?"
Sein Gesicht wurde mit einem Mal blass.
Er weiß es.
„Hast du dir auch Geld geliehen?"
„Nur von meinen Eltern." Er sah mich verlegen an.
„Ihr habt nur Scheiße im Kopf." Fluchend dampfte ich ab.

Am nächsten Tag auf der Arbeit, konnte ich mich kaum konzentrieren. Ständig mussten die Gäste ihre Bestellungen für mich wiederholen, weil ich nicht richtig zugehört hatte. Zwei Mal servierte ich etwas Falsches und einmal verschüttete ich sogar Cola über einen älteren Herren. Gott, war mir das peinlich gewesen. Als wir nach der Mittagszeit etwas Leerlauf hatten, nahm mich Elena zur Seite.
„Was ist heute los mit dir, Süße?", erkundigte sich meine beste Freundin.
„Es ist nichts, nur..." Ich sah sie an. „Josh hat Schulden", platzte es aus mir heraus.
„Was? Wieso das denn? Du gibst ihm doch ständig Geld."
Ich erzählte ihr die Geschichte, ließ aber weder den Namen Dearing fallen, noch erwähnte ich, dass Josh Besuch von einem Geldeintreiber hatte. „Jedenfalls will er meine Hilfe nicht annehmen", schloss ich meine Erzählung ab.
Elena wirkte besorgt. „Vielleicht solltest du das akzeptieren, Süße. Er muss für sein Handeln auch mal die Konsequenzen tragen."
„Wenn es um mich gehen würde, du das Geld hättest, ich deine Hilfe aber ablehnen würde. Was würdest du dann tun, hm?"
„Ich würde dir in den Arsch treten", gab sie schmunzelnd zu.
Mehr Bestätigung, um mein Vorhaben in die Tat umzusetzen, brauchte ich nicht.

Kurz vor meinem Feierabend am frühen Nachmittag, suchte ich das Gespräch mit meiner Chefin Roberta. Ich bat sie, um die Auszahlung meiner Überstunden, welche ich in den letzten Monaten gesammelt hatte. Sie war nicht begeistert, denn im Arbeitsvertrag war schriftlich festgehalten, dass Überstunden nicht aus bezahlt, sondern als Urlaubstage verrechnet wurden.
Als ich ihr daraufhin erzählte, dass es ein Notfall sei, stimmte sie widerwillig zu.
Nachdem ich das Café verlassen hatte, machte ich mich auf den Weg zu einer Filiale meiner Bank. Dort angekommen, ließ ich mir schweren Herzens, den gesamten Betrag, den ich mir über die letzten Jahre zusammen gespart hatte, aus meinem Sparbuch auszahlen. Ich zählte die Scheine, steckte sie in meine Tasche und brach zur nächsten Bushaltestelle auf.
Die Tour nach Fort Hamilton dauerte über eine Stunde. Ständig musste ich mir neuen Mut zu reden und mich selbst davon abhalten, auszusteigen und gleich den nächsten Bus zurück zu nehmen. Ich wusste selber nicht genau, wie es weiter gehen würde, wenn ich erst einmal da war. Aber Daxton Dearing hatte dort eine berühmt-berüchtigte Bar, das
sagte zumindest Google. Dort, dachte ich mir, würde ich mein Glück versuchen.

Als ich schließlich vor der Tür des Fort Hamilton's stand, hatte mich mein Mut vollständig verlassen.
Was mache ich hier eigentlich?
Ich dachte an Josh und daran, dass ich ihm helfen wollte, also beschloss ich reinzugehen. An der Tür hing ein Geschlossen-Schild, die Tür legte jedoch nur an, also trat ich ein.
Die Bar würde erst am Abend öffnen, daher waren nicht viele Leute auszumachen.
„Hey, Süße, kann ich dir helfen?" Ein Typ, groß und mit Glatze, kam auf mich zu.
„Äh, ja. Ich bin auf der Suche nach jemanden", antwortete ich ihm und wünschte mir, meine Stimme würde fester klingen.
„Ich bin auch ständig auf der Suche." Er zwinkerte mir zu.
Okay, was war das bitte für eine sauschlechte Anmache?
Ich räusperte mich. „Ich bin mir nicht sicher, ob er hier arbeitet. Er ist Mitte-Ende Zwanzig, hat dunkle Haare, ist ziemlich groß und tätowiert", beschrieb ich ihn.
Der Glatzkopf fing an zu lachen.
Lacht der Kerl mich gerade aus?
Verunsichert sah ich mich im Raum um, und stellte fest, dass meine Beschreibung auf so ziemlich jeden der wenigen Anwesenden zutraf.
Prima.
„Er hat eine Narbe im Gesicht", fügte ich hinzu.
Jetzt wusste er, wen ich meinte. „Ach, du willst zu Tyler."

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