Kapitel 22 (Teil 2), Erinnerung

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...und mit einem Schlag änderte sich wieder alles. Über die zwei Jahre wurde es in der Schule immer schlimmer. Wahrscheinlich dachten sie dass wenn sich jemand nicht wehren kann sie das Recht haben die Person zu erniedrigen. Ich bin mir auch ziemlich sicher dass die meisten wussten dass ich ein Mädchen bin. Ab und an bekam ich Anfälle, wahrscheinlich waren sie psychisch als auch körperlich beeinflusst. Ich hatte Halluzinationen, Flashbacks, hörte Stimmen... Eigentlich alles Erinnerungen. Meistens überschütteten mich brennende und stechende Schmerzen, ich fühlte mich als würde ich lebendig verbrennen, als würde etwas meinen Kopf wieder und wieder zerschmettern. Mein Körper war damit so überfordert dass so ein Anfall immer mit Umkippen endete. 

Und, zu der Zeit habe ich Kalodius getroffen. Er hat mich im Wald gefunden, und später ist er plötzlich in meiner Schule aufgetaucht und hat sich einfach an mich geklebt. Als erstes hasste ich ihn dafür aber... nach einiger Zeit wurde er mir wichtig. Das hat mich überrascht. Wir trafen immer wieder aufeinander, und... in der Zeit starb... meine Mutter. Ich fand sie in einer völlig demolierten Wohnung. Als nächstes wachte ich bei Frau Herman auf. Die ältere Frau, wir kümmerten uns um einander. Sie hat mich gerettet, und ich bin ihr unheimlich dankbar dafür. Mir ging es immer besser, ich bekam Freunde, und wurde Model. Wir hatten alle so viel Spaß, verbrachten so viel Zeit zusammen, und ich dachte wirklich dass alles besser wird. Ich habe sogar die Schule abgebrochen für Karriere, ich hatte eine Beziehung mit einem Jungen und alles hätte auch super funktioniert wenn ich nicht eines Tages Frau Herman tot vorgefunden hätte. An dem Punkt hat sich das angefühlt als wäre das Programm das mich am laufen hielt nicht einfach kaputt. Es ist abgestürzt. Ich fühlte nichts mehr. Konnte mit niemandem reden. Und ich kann verstehen dass sich Menschen dafür von mir abwenden, denn meine Freunde wollten eigentlich nur das beste für mich, und ich habe sie weg geschoben und ihnen dadurch weh getan. Aber am Ende ist es doch das schlimmste geworden. Alton. Du... hast mich aufgehoben. Als erstes gab es nur Spannung zwischen uns, und das hatte den Grund dass ich nichts anderes als ein Spiegel bin. Du hasst diese Schüler, und kannst es nicht einmal dir selbst zugeben, und ich habe einfach nur dich reflektiert. Ich weiß dass du mich dafür gehasst hast. Aber allmählich hast du gelernt dich selbst zu lieben. Ich mag es nicht das so zu sagen aber ich glaube, damit liebtest du auch mich. Und als der Spiegel durch den du immer nach dir selbst checken konntest zerbrochen ist, bist du auf die Knie gegangen und hast langsam aber sicher angefangen die Scherben zusammenzukleben. Nachdem ich so viel verloren habe, nachdem es so oft misslungen ist mich selbst wieder aufzubauen, bist du der erste der es schafft mich wieder zum leben zu bringen. Und ich habe gelernt die Einstellung zu verwerfen dass das Gute entweder auf einmal kommt oder gar nicht, denn das wirklich gute baut sich nur langsam auf. Was ich noch gelernt habe ist dass es so etwas nicht gibt dass Menschen allgemein schlecht sind. Nur die Außenschicht ist manchmal angeschimmelt. Und genau so bin ich. Ich erzähle die ganzen Sachen die mit mir passiert sind so Flach und allgemein, aber du kannst dir nicht vorstellen wie sehr mich all das kaputt gemacht hat, ich habe so viel gutes verloren...

Beim letzten Satz fing Claire an zu weinen. Nicht wie immer auf diese emotionslose, klare Art und weise. Es rollte ihr nicht eine Träne übers Gesicht sondern alles strömte heraus, und sie lächelte in ihren Schmerzen, sah Alton währenddessen in die Augen. "Ich... Ich wollte nur glücklich sein... Und trotzdem ging alles kaputt...", sie schluchzte. Jetzt, erst jetzt nahm sie wirklich alles auf. "Weißt du, vorher hatte ich das Gefühl dass es gar nicht wirklich um mich ging. Alles um mich herum passierte einfach und... Ich war nie ich. Ich war nie eine Person, Alton verstehst du?", immer mehr Tränen überströmten ihr Gesicht, sie fühlte, endlich fühlte sie die Schmerzen in ihrem kleinen zerbrochenen Herzchen so wie sie es sollte. "Ich war immer versteckt, Alton! Hinter der Kleidung, hinter der Emotionslosigkeit, hinter den vielen verschiedenen Namen, Hinter den Gedanken, den Anfällen, Mein Kopf wollte einfach nicht verstehen was ich fühlen soll, wo ich hin gehöre..."- "Du musst nicht weinen Clara, bitte..."- "Nein, Alton mir geht es gerade so gut das glaubst du nicht!", sie lächelte, "Ich fühle endlich... Du kannst das nicht verstehen aber... Ich verstehe Endlich was ich bin und wie ich fühle. Ich verstehe dass das so sein muss. Gefühle können nicht einfach stumm bleiben. Sie fehlten mir nie. Sie waren einfach versteckt.", sie wischte sich die Tränen weg mit der Hand, "Und... Und... Ich werde Zeit brauchen aber ich kann jetzt endlich... Loslassen..." 

Alton stand auf und ging auf das Mädchen zu. Er umarmte sie und stützte seine Stirn auf ihre. "Du hast recht, ich kann klar nicht ganz verstehen was du durchmachst. Aber ich bin glücklich für dich. Und mit dir.", dann nahm er sie hoch und trug sie ins Bett. "I-Ich möchte nicht in mein Zimmer.", flüsterte Claire. Alton blieb verwirrt stehen. "Kann ich neben dir schlafen? Ich möchte nicht wieder alleine sein..."- "Ja.", er lächelte. Einen Moment später lagen die beiden auf dem Doppelbett. Sie hatten einen gesunden Abstand zwischen einander. Nach einigen Minuten schweigen spürte Herr Cohlen eine Hand auf seiner. Er sah rüber zu dem Mädchen. "Darf ich dich küssen?", fragte er. Sie nickte. Er beugte sich über ihr wunderschönes entspanntes Gesicht und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Lippen. Sie kicherte. Was für ein Engel das doch ist...

Diese Nacht schlief Clara mit einem wirklich gereinigtem Herzen ein. Sie fühlte sich als hätte etwas in ihr, etwas so schweres wie riesiger Stein, endlich einen Platz gefunden an dem es tragbar wurde. Der Schmerz war nicht mehr drückend, zerstörend. Er war sogar etwas befreiend. Er fühlte sich natürlich an, wie etwas das nur zerstörerisch wirkte weil es nicht seinen richtigen Platz kannte. Und zum ersten mal in ihrem Leben war in Claras Herz endlich eine Ruhe, eine Stille nach der sie so lange gesucht hat. 

Im HimmelWhere stories live. Discover now