6. Kapitel

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Der Blonde schüttelte den Kopf: "Nein, am liebsten würde ich dich einfach nie wieder sehen. Zumindest in den nächsten Monaten. Es tut mir leid, aber das ist die Wahrheit." Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit, während ich geschockt und voller Schuldgefühle zurückblieb und ihm nachblickte.

Nach einigen Minuten kam wieder Bewegung in meinen Körper und ich schüttelte vollkommen überwältigt meinen Kopf. Jemand war tot, weil ich auf der Straße einen kleinen Aufstand angezettelt hatte. Statt Philipp war dieser Ben gestorben, der sicher auch ein anständiger Mensch war, wenn er sich hier für die Rechte der Deutschen eingesetzt hatte. Ein Kerl, der Freunde und vielleicht auch Familie hatte. Ich kniff die Augen zusammen, doch die Tränen sammelten sich dennoch darin. Ich fühlte mich so verdammt schuldig an dem Tod.

Langsam begann ich loszulaufen und erklomm die eisernen Stufen der Treppe. Doch mit jedem Schritt fühlte sich mein Körper ausgelaugter an. Ich war völlig erschöpft und meine Gefühle fuhren Achterbahn. Ich war verwirrt, verängstigt, geschmeichelt, stolz und fühlte mich gleichzeitig schuldig, total überfordert und ausgelaugt. Hätte ich noch ein Handy gehabt, ich hätte keinen Emoji finden können, der meine Situation beschrieben würde. Ich musste selbst über die Absurdität meiner Gedanken schmunzeln. Wie konnte ich nur nach all dem an Smileys denken?

Das Lachen blieb mir jedoch im Hals stecken, als ich die Tür am Ende der Treppe öffnete. Schwüle Luft schoss mir entgegen und trieb mir sofort wieder Schweißtropfen auf die Stirn. Meine Füße fühlten sich noch müder an und ich befürchtete schon Blattfüße zu bekommen, wenn ich noch länger laufen müsste. Stöhnend schloss ich die Tür wieder hinter mir. Ich war wirklich knapp hinter dem Tor, was hieß ich müsste noch zwei Straßen laufen. Doch es war nicht die Erschöpfung, die mir Angst vor dem Weg nach Hause bereitete, sondern das laute Brummen eines laufenden Motors. Sie waren schon da.

Sehr vorsichtig schlich ich mich im Schatten der Häuser entlang, möglichst leise und unauffällig. Zwar durfte ich hier draußen sein, doch es war nie gut aufzufallen. Vor allem nicht nachdem, was ich mir heute Mittag geleistet hatte. Emanuel hatte mich gewarnt, sie würden mich suchen. Und das natürlich in den Bezirken in der Nähe. Ich erschauderte. Was, wenn sie genau deswegen hier waren? Die Sonne ging schon langsam unter, ich war lange weg gewesen, normalerweise kehrte hier langsam Ruhe ein. Die Nachtschichten verbrachten sie nämlich am liebsten im Ostbezirk, zumindest war das ein weiterverbreitetes Gerücht.

Die Steine knirschten unter meinen Fußsohlen und ich blieb augenblicklich wie eingefroren stehen. Doch es hatte niemand gehört, zumindest hoffte ich das, nachdem auch nach einigen Sekunden kein weiteres Geräusch zu vernehmen war. Als ich weiterlief, erhöhte ich mein Tempo. Ich wollte nur noch nach Hause und in Sicherheit.

Tatsächlich begegnete mir kein Russe oder ein anderer Mensch auf der Straße bis ich bei mir zu Hause ankam. Erleichtert stieß ich die Tür auf und blickte in das Gesicht meiner besorgten Mutter. Doch bevor sie ihrer Wut Luft machen konnte, rannte ich auf sie zu und umarmte sie. Es tat so gut. Die Wärme und Geborgenheit, die sie mir vermittelte, war alles, was ich gebraucht hatte.

Meine Mutter erwiderte die Umarmung und zog mich an sich. Als sie dabei meine Schulter berührte, zischte ich unter Schmerzen auf. Ich hatte vollkommen verdrängt, dass der Soldat mich mit der Peitsche erwischt hatte. Da war so viel Trubel und Aufregung gewesen, dass ich die Schmerzen einfach ausgeblendet hatte. "Was hast du?", erkundigte sich meine Mutter besorgt und löste mich von ihr. Vorsichtig schob sie den Pullover ein Stück zur Seite und enthüllte einen roten Striemen, der sich langsam grün färbte.

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