3. Kapitel

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Ohne darüber nachzudenken, warf ich mich zwischen die beiden. "Lass ihn in Ruhe!"

Ich spürte die Blicke aller Leute auf mir, als ich dort stand. Dort, zwischen einem wütendem Soldaten und einem kleinen, weinenden Kind. Verächtlich schnaubte der Mann vor mir auf, die bereits leicht gräulichen Haare hingen ihm ins Gesicht und verdeckte zu einem Teil die zornigen Falten auf seiner Stirn und zwischen seiner Nase.

"Kennst du den Jungen?", fuhr er mich an und zeigte abwertend auf den Kleinen, der sich hinter meinen Beinen versteckte. Mein Herz raste, doch meine Stimme war kühl und ruhig, als ich antwortete: "Was tut das zur Sache?" Ich wusste, dass ich im Recht war und es gab mir Kraft. So viel Kraft, dass ich ohne mich zu bewegen stehen blieb und ihn entschlossen anstarrte, obwohl ich mir bewusst war, dass ich hier gerade mein Leben aufs Spiel setzte.

Der Schlag traf mich unvorbereitet, direkt ins Gesicht. Erschrocken keuchte ich auf und hielt meine Wange. Als ich wieder aufblickte, sah ich als erstes das breite Grinsen auf den Lippen des Mannes. Breitbeinig stand er da und musterte mich triumphierend von oben herab. Ich richtete mich wieder auf und meine Stimme war voller Hass, als ich wieder zu sprechen begann: "Hat man dir nicht beigebracht, dass man keine Frauen schlägt?"

Zu spät wurde mir klar, dass ich damit mein Todesurteil unterschrieben hatte. Jetzt war es definitiv zu spät. Der Mann griff in seine Hosentasche und zückte seine Pistole. Ohne Mitgefühl zu zeigen, richtete er sie auf mich. "Du möchtest wirklich sterben, oder?" Mein Herzschlag wurde langsamer, ich spürte die Ruhe in mir, die vollkommen unangebracht war. Doch in dem Moment fühlte ich keine Panik, nur ein leichtes Kribbeln im Bauch.

"Geh zur Seite", knurrte der Mann jetzt. Ich spürte die kleinen Hände des Jungens an meinem Pullover, wie er sich hineinkrallte. "Nein." Ich hatte eh nichts mehr zu verlieren. Ich holte tief Luft und sah mich noch einmal um. Alle starrte sie mich an. Ich sah Ungläubigkeit und Verachtung, sowie Hass auf ihren Gesichtern, aber auch Hoffnung und Bewunderung. Als mein Blick auf die Mutter des Jungens fiel, sammelten sich auch in meinen Augen Tränen. Ihr Blick war voller Dankbarkeit, unendlich großer Dankbarkeit. Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie immer wieder entschuldigend den Kopf schüttelte, als wolle sie mir sagen, dass es ihr leid tat, dass ich hier stand und nicht sie.

Ich wand mich wieder dem Russen zu. Ich stand hier, weil ich einem Kind das Leben retten wollte. Wenn ich starb, dann wenigstens nicht umsonst. Provozierend sah ich den Mann an. Ich fühlte mich sicher, als würde er nicht schießen, dabei wusste ich, dass diese Soldaten vor nichts zurück schreckten. Der Lauf der Pistole zeigte auf meine Stirn. Ich holte tief Luft und schloss die Augen. In Gedanken entschuldigte ich mich bei Timo, Nico, Rica, Mom und Meredith. Ich würde nicht heimkommen. Ich würde keine Medikamente bringen. Ich würde ihnen nicht mehr helfen können. Ich hörte, wie er die Waffe entsicherte und da war die Panik plötzlich da. Ich wollte rennen, schreien, weinen, weglaufen. Ich durfte noch nicht sterben. Ich war zu jung, ich hatte noch nicht alles in meinem Leben erreicht. Ich musste noch Jack finden. Ich musste Meredith retten. Ich musste auf meine Brüder aufpassen. Ich musste zu Hause sein, bevor die Russen kamen. Ich konnte nicht hier stehen und mien Leben für einen Fremden opfern. Nicht, wenn dafür andere Sterben mussten. Ich hatte noch soviel zu erledigen. Ich konnte das nicht tun, nicht ich. Panisch riss ich die Augen auf.

"Stop!" Es war nicht meine Stimme, die über den Marktplatz hallte. Verwundert und erleichtert sah ich mich um und blickte in das Gesicht eines russischen Soldaten. Er war sicher Mitte fünfzig, die Haare waren schneeweiß und die Haut voller Narben. Zielstrebig marschierte er durch die Menge und die Leute machten ihm Platz. "Erschieß sie doch nicht einfach, du solltest ihr eher zeigen, was es heißt sich zu widersetzen. Der Tod wäre viel zu gut für so etwas." Mit einer abwertenden Handbewegung zeigte er auf mich. All die Erleichterung verschwand aus meinem Gesicht. Der erste Soldat schien kurz zu überlegen, nickte jedoch. Ich musste hörbar schlucken.

DefeatedWhere stories live. Discover now