Kapitel 33

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Zuerst war ich ziemlich angespannt und rechnete damit, dass jeden Augenblick jemand durch die Tür gestürmt kam, um mich zu erschießen. Aber nichts dergleichen geschah. Langsam beruhigte ich mich. Ich brachte mich sogar dazu, die Pistole nicht mehr krampfartig zu umklammern, sondern sie neben mich auf den Boden zu legen. Lily schlummerte tief und fest auf Lissbetts Schoß. Die Alte wandte ihren Blick kaum von dem Baby ab, schien aber mit den Gedanken ganz woanders. Vielleicht dachte sie an ihre eigenen Kinder? Wer wusste das schon. Mit Sicherheit hatte auch sie eine Familie und Enkelkinder gehabt; vielleicht sogar schon Urenkelkinder. Und jetzt waren alle tot.

Traurig löste ich den Blick von der alten Frau und schaute wieder aus der Balkontür. Inzwischen musste wohl fast Mittag sein, denn die Sonne stand hoch am Himmel. Langsam meldete sich der Hunger bei mir, aber ich wollte nicht aufstehen, um mir etwas zu essen aus dem Rucksack zu holen. Einerseits, weil ich Lily nicht wecken wollte, andererseits, weil ich Lissbett nichts abgeben wollte. Ich traute ihr nicht, und ich war garantiert nicht bereit, meine wenigen Lebensmittel mit ihr zu teilen.

Und dann sah ich ihn. Allein. Wie eine Fata Morgana kam er über die Zufahrt gelaufen. Mit typisch federndem Gang. Beinahe lässig. Allerdings mit dem Finger am Abzug seiner MR223. Wo hatte er die her?

Ein paar Sekunden lang starrte ich einfach nur wie in Trance auf den sich nähernden Floh. Und dann fragte ich mich, wieso er mitten über die Zufahrt gelaufen kam. Man konnte ihn meilenweit sehen. Hatte er keine Sorge, dass man ihn entdeckte? Und abschoss? Ich runzelte die Stirn. Das passte normalerweise gar nicht zu ihm. Es sei denn, er wäre sich sicher, dass er nichts zu befürchten hatte. Weil es keine Gegner mehr gab. Unruhe machte sich in mir breit. Als er näher kam, erkannte ich Blutspuren auf seiner Kleidung. Allerdings nicht sein Blut. Was hatte er getan?

Natürlich hatte er das Auto schon von Weitem gesehen. Doch er schien darin keine Bedrohung zu sehen. Ganz gemächlich schlenderte er weiter, ohne den Wagen auch nur eines Blickes zu würdigen. Wieso war er auf einmal so unvorsichtig? Das passte gar nicht zu ihm.

"Er ist hier."

Lissbett wachte aus ihrem Tagtraum auf. Sie schien meine Verwirrung zu bemerken. "Wat is' mit ihm?"

Ich schluckte. "Er ist sich seiner Sache viel zu sicher. Zu unvorsichtig. Hat sich nicht einmal umgeschaut."

Lissbett runzelte ihre faltige Stirn. "Dat is' unjewöhnlich. Sonst hat'er den Blick immer überall."

Ich warf einen hektischen Blick nach draußen. Er war nicht mehr zu sehen. "Er ist im Haus."

"Die letzten Male hat er immer jerufen..."

"Lissbett", begann ich, "wir müssen sofort in den Schrank."

"Zu wenich Zeit. Du jehst in'en Schrank, ich lauf ihm entjejen."

Ich hatte keine Zeit, ihr überschwänglich zu danken. So schnell und leise wie möglich warf ich die Rücksäcke und Krücken in das Versteck, quetschte mich selbst hinein und ließ mir Lily von Lissbett geben. Ohne ein weiteres Wort rückte sie die Rückverkleidung des Schrankes zurecht und ließ Lily und mich in der Finsternis zurück. Die Pistole lag direkt neben mir. Jedoch wusste ich, dass ich gegen Floh und seine HK nichts auszurichten hatte. War er gekommen, um mich zu töten? Oder mich zu verschleppen? Im Auftrag der Männer im Schloss? Das würde seine fehlende Vorsicht erklären. Aber wieso sollte er sich ihnen anschließen? Das alles ergab keinen Sinn. Und doch schien es fast logisch. Er hatte sich ergeben. Und brauchte deshalb keine Angst zu haben, dass man ihn entdeckte. Er hatte versprochen, mich zu holen. Weil ich ihm traute. Aber war das alles bloß Show oder nicht? Wollte er mich tatsächlich als Gefangene im Schloss abliefern? Oder hatte er gegenüber den Typen im Schloss gelogen und wollte doch mit mir fliehen, ließ es aber vorerst so aussehen, als hätte er die Seiten gewechselt?

Floh, was hattest du vor?

Ganz leise konnte ich Stimmen hören. Eine tief, die andere unregelmäßig und teilweise kaum zu verstehen. Floh und Lissbett. Dann wurde es still. Kurz darauf ein Rumpeln und ein überraschter Aufschrei. Was hatte er Lissbett angetan? Danach wieder Stille. Und Schritte, die die Treppe hinauf polterten. Zielstrebig. Als wüsste er ganz genau, wo ich war.

Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass er nicht zu den Schlosstypen übergelaufen war. Floh hatte sich schon immer leicht davon überzeugen lassen, zu der Seite mit den besten Aussichten auf Erfolg zu wechseln. Er war ein Gewinnertyp. Versagen war keine Option für ihn; lieber verriet er seine eigenen Freunde. Das wurde mir erst jetzt richtig bewusst. Zu spät, flüsterte eine leise Stimme in meinem Kopf. Zu spät.

Ich schloss die Augen. Ich hatte versagt. Verraten vom eigenen Freund, vom engsten Vertrauten. Lily würde niemals frei und sicher aufwachsen. Mara hatte sich umsonst auf mich verlassen. Umsonst ihr Leben riskiert. Lily wand sich unglücklich in meinen Armen. Das war's.

Die Zimmertür knallte gegen die Wand, als sie schwungvoll geöffnet wurde. Bestimmte Schritte im Zimmer. Die Schranktüren klapperten und gedimmtes Licht schimmerte hinter meinen geschlossenen Lidern, als die Klappe zum Versteck entfernt wurde.

Nichts.

Stille.

Ich regte mich nicht.

Wagte nicht zu atmen. Eine einsame Träne fand ihren Weg zwischen meinen Wimpern hindurch.

Und doch zitterte ich. Am ganzen Leib. Ich wollte, konnte ihn nicht ansehen. Lieber nichts mitkriegen. So war sein Verrat leichter zu ertragen. Abschottung.

"Max."

Das war keine Frage. Kein Befehl. Es hatte nichts forderndes oder bedrohliches. Nur eine schlichte Feststellung. Eher etwas überrascht.

"Max", seufzte er. Er klang erleichtert. Als könnte er es nicht fassen, mich hier zu finden. Schauspielerte er? Er hatte doch gewusst, dass ich hier war. Oder?

"Alles in Ordnung. Du kannst rauskommen", meinte er. Doch ich wagte nicht, mich zu bewegen. Wenn er sich den Schlosstypen angeschlossen hatte, war er keinen Deut besser als sie. Er würde mich ausliefern. Männer, die sich über mich hermachten, gierig, gnadenlos-

"Shit", flüsterte er. "Du hast diese junge Frau getroffen. Und...shit." Kurze Pause. "Das ist ihr Kind. Sie hat dir ihr Baby gegeben."

Meine Nerven standen kurz vor dem Zerreißen. Innerlich schrie ich. Ich konnte nicht entkommen. Ausweglos.

Halt. Stopp. Es gab eine letzte Lösung. So würde niemand Lily kriegen. Oder mich. Frei. Beide.

Ich tastete mit zitternden Fingern nach der Pistole. Meine Hand schloss sich um das kalte Metall. Langsam öffnete ich die Augen und schaute nur auf die Waffe in meiner Hand. Tränen strömten über mein Gesicht. Kindsmörderin. Es würde schnell gehen. Vorsichtig legte ich die Waffe an Lilys Schläfe. Sie war so friedlich. Große Augen blickten mich an. Vertrauensvoll. Unschuldig. Zu jung.

Und doch wäre es Gnade. Sie sollte das nicht ertragen müssen. Ich würde ihr direkt folgen. Nicht allein. Keine von uns.

"Es tut mir leid", flüsterte ich. Und lud durch.

"Was zum-", stieß Floh hervor.

Er riss meinen Arm herum. Ich drückte ab. Und traf die Falsche.


Never Feel SafeWhere stories live. Discover now